6. April 2004
Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD)
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Chinas Weissbuch zu den Menschenrechten: Nichts als Schönfärberei

Nach Auffassung des TCHRD ist 2003 ein Jahr schwerer, von den chinesischen Behörden in Tibet begangener Menschenrechtsverletzungen gewesen. Die dem TCHRD vorliegenden Informationen beweisen deutlich die anhaltende und systematische Verletzung der Bürgerrechte des tibetischen Volkes, seines Rechts auf Religionsfreiheit und seiner sozial-ökonomischen Rechte.

Am 30. März 2004 veröffentlichte die Informationsabteilung des chinesischen Staatsrats ein Weißbuch mit dem Titel: "Verbesserung der Menschenrechtslage in China im Jahre 2003" (Progress in China's Human Rights Cause in 2003). Das Weißbuch umfaßt folgende acht Kapitel: Das Recht der Menschen auf den Erwerb ihres Lebensunterhalts und auf Entwicklung; Bürgerliche und politische Rechte; Gesetzliche Garantien für Menschenrechte; Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; Rechte und Interessen von Frauen und Kindern; Gleiche Rechte und besonderer Schutz für ethnische Minderheiten; Rechte und Interessen von Behinderten; Internationaler Austausch und Zusammenarbeit in Menschenrechtsfragen.

Das Weißbuch hebt hervor, daß durch den 10. Nationalen Volkskongreß (NPC) "zum ersten Mal" der Satz "der Staat respektiert und sichert die Menschenrechte" in die chinesische Verfassung aufgenommen wurde. Das TCHRD würde diesen Zusatz begrüßen, falls er ein Anzeichen dafür wäre, daß China allmählich den Prinzipien der Menschenrechte Bedeutung beimißt. Die chinesische Verfassung garantiert den Bürgern bereits die ungehinderte Ausübung der Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit. Wie man den Aussagen von Flüchtlingen entnehmen kann, hilft diese verfassungsmäßige Garantie jedoch nicht, um den Menschenrechtsverletzungen in Tibet ein Ende zu setzen. Wenn es bei den bisherigen politischen Mustern bleibt, dann wird dieser neue Verfassungszusatz reine Fiktion bleiben und in der Praxis keinerlei rechtliche Garantien nach sich ziehen. Daher fordert das TCHRD die chinesische Regierung dringend dazu auf, sich an ihre verfassungsgemäßen Garantien zu halten und die Menschenrechte ihrer Staatsbürger zu achten.

Das Weißbuch ist eine Studie voller Widersprüche - China rühmt sich seiner "Fortschritte in der Menschenrechtsfrage" und erklärt gleichzeitig, "bei den Menschenrechten bestehe noch viel Raum für Verbesserungen", und "die Regierung bemühe sich weiter aktiv um wirksame Maßnahmen zur fortschreitenden Verbesserung der Menschenrechtssituation in China, um so der Bevölkerung zunehmend die Ausübung ihrer Menschenrechte zu ermöglichen". Tibet wird dem TCHRD zufolge in dem Weißbuch kaum erwähnt, obwohl gerade diese Region Schauplatz der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen ist.

Die Chinesen behaupten, "beträchtliche Fortschritte bezüglich der rechtlichen Garantien für Menschenrechte" erzielt zu haben. "Die öffentlichen Sicherheitsorgane haben dem Gesetz konsequent Geltung verschafft und es im Interesse der Bevölkerung angewandt... Menschenrechtsverletzungen wie der Einsatz von Folter zur Erpressung von Geständnissen, der Mißbrauch von Schußwaffen und polizeilicher Gerätschaften und andere Zwangsmaßnahmen wurden streng geahndet".

In Tibet sind Folter und andere Formen von Mißhandlung in jeder Phase des Vorgangs der Inhaftierung an der Tagesordnung: bei der Festnahme, während des Transports in die Haftanstalten, in den Untersuchungshaftanstalten und in den Gefängnissen. Verschiedene Arten der Folter werden generell verwendet, um Geständnisse zu erpressen und die Gefangenen zur Preisgabe der Namen von "Komplizen" zu "bewegen". Die chinesische Regierung duldet diese Vorgehensweise stillschweigend und sieht keine angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Tibetern, die eines Verbrechens beschuldigt werden, vor. Weiterhin müssen Tibeter an den Folgen exzessiver Folter sterben, es wird ihnen auch die gebührende medizinische Versorgung versagt.

Wie man dem Weißbuch entnehmen kann, gibt China zu, daß die Praxis der Haftverlängerung verbreitet ist: "Im Jahr 2003 wurden Fälle von Haftverlängerung, wovon 25.736 Personen betroffen waren, korrigiert". Dem TCHRD liegen Informationen darüber vor, daß Champa Chungla, der Sekretär des Komitees für die Suche nach der Reinkarnation des XI. Panchen Lama, immer noch in Haft ist, obwohl er am 16. Mai 2003 hätte entlassen werden sollen. Inoffiziellen Berichten vom April 2003 zufolge steht der Leiter des Suchkomitees, Chadrel Rinpoche, nach der Verbüßung seiner sechsjährigen Haftstrafe weiterhin unter Hausarrest. Mit einer Haftverlängerung werden vor allem die tibetischen Gefangenen bestraft, die durch ihre Persönlichkeit und ihren Status die Aufmerksamkeit der internationalen Medien und Menschenrechtsgruppen auf sich gezogen haben.

Eine wichtige Stelle in dem Weißbuch kommt auch dem 2003 formulierten und in Kraft getretenen Verwaltungsstatut "Bestimmungen zur rechtlichen Vertretung" zu, mit dem die Regierung das Bürgerrecht auf anwaltliche Vertretung garantiert. Dennoch wurden 2003 die Hinrichtung von Lobsang Dhondup und die Bestätigung des Todesurteils mit zweijährigem Vollstreckungsaufschub gegen Tulku Tenzin Delek ohne die von ihnen beauftragten Anwälte beschlossen. Beide Männer wurden wegen angeblicher Beteiligung an einer Reihe von Sprengstoffanschlägen in Osttibet verurteilt. Die Hinrichtung von Lobsang Dhondup spricht für die neue chinesische Strategie, welche den gewaltlosen Freiheitskampf der sechs Millionen Tibeter als "Akt des Terrorismus" denunziert. Des weiteren läßt diese Gerichtsentscheidung die Mängel des chinesischen Rechtssystems erkennen. Beiden Männern wurde eine faire und angemessene anwaltliche Vertretung verweigert. Die Analyse der Ereignisse nach ihrer Verhaftung zeigt, in welchem Umfang China bei der Umsetzung der neuen, in seinem erweiterten Strafrecht enthaltenen Rechtsgarantien versagt.

In den die bürgerlichen und politischen Rechte betreffenden Abschnitten des Weißbuchs steht, China "folge dem Prinzip, dem Menschen als solchem Vorrang vor allem anderen zu geben". Wenn dem tatsächlich so wäre, käme es einem Erdrutsch gleich. Jahrelang wurde in der offiziellen Phrasendrescherei die "nationale Stabilität und die Einheit des Mutterlands" als vorrangiges Ziel für China genannt. Welche Wichtigkeit China der nationalen Stabilität beimißt, wird durch die Anklagekategorie "Gefährdung der Staatssicherheit" in seinem Strafrecht deutlich. Die Mehrdeutigkeit des Begriffes wird zur Unterdrückung vielfältiger legitimer Rechte einschließlich der Rechte auf Meinungs-, Rede- und Religionsfreiheit genutzt.

Das TCHRD dokumentierte 2003 siebenundzwanzig Verhaftungen aus politischen Gründen. Ein Großteil davon erfolgte in der TAP Kardze, was auf die Entschlossenheit der chinesischen Führung zur vermehrten Überwachung und Unterdrückung der Tibeter außerhalb der TAR hinweist. Durch die Exekution von Lobsang Dhondup und das Todesurteil gegen Tulku Tenzin Delek wird deutlich, daß China friedliche Unabhängigkeitsaktivitäten als Delikte der "Gefährdung der Staatssicherheit" und "Spaltung des Mutterlandes" verfolgt.

In einem kurzen Abschnitt des die bürgerlichen und politischen Rechte betreffenden Teils des Weißbuchs bestätigt die chinesische Regierung, daß "die Bürger im Rahmen des Gesetzes Religionsfreiheit genießen" und daß "normale religiöse Aktivitäten unter staatlichem Schutz stehen". Dennoch haben die chinesischen Behörden 2003 ihre Anti-Dalai-Lama-Kampagne in Tibet intensiviert und die hergebrachten religiösen Praktiken massiv eingeschränkt, was eine gravierende Verletzung der religiösen Rechte der Tibeter darstellt.

Pekings Bemühungen zur Verbreitung des Atheismus in Tibet mittels politischer Maßnahmen wie der Kampagne zur "patriotischen Erziehung" und der Anti-Dalai-Lama-Kampagne haben zur Degeneration des tibetischen Buddhismus in den klassischen Disziplinen der Debatte, der Meditation, des entsprechenden Denkens, Schreibens und Anhörens geführt. Vier Mönche aus dem Kloster Khangmar wurden zu langen Haftstrafen von acht bis zwölf Jahren verurteilt, weil sie Gebetszeremonien für den Dalai Lama durchgeführt hatten. Den Einwohnern der Distrikte Kardze und Lithang wurden mit der Beschlagnahmung ihres Landes gedroht, falls sie den örtlichen Behörden nicht innerhalb eines Monats alle in ihrem Besitz befindlichen Porträts des Dalai Lama aushändigten. Die chinesischen Behörden halten den vom Dalai Lama im Mai 1995 als XI. Panchen Lama anerkannten Gedhun Choekyi Nyima nun schon das achte Jahr fest.

China hat wiederholt behauptet, die "Wirtschaft in den Gebieten der ethnischen Minderheiten" hätte sich "rapide weiterentwickelt und der Lebensstandard der dortigen Bevölkerung" hätte sich "deutlich erhöht; so sei die Gesamtproduktion von Tibet und Ningxia um 11,5% gestiegen". Tatsächlich ist Tibet aber weiterhin eine der ärmsten Regionen der Welt. Die von Peking so viel gerühmten Subventionen für Tibet fließen in den von den Besatzern kontrollierten tertiären Sektor. Die Tibeter indessen stellen hauptsächlich den Primärsektor, der nur minimale Subventionen erhält, weshalb sie weiterhin ein Leben in erbärmlicher Armut fristen müssen. Sie haben nur begrenzten oder gar keinen Zugang zu medizinischen Einrichtungen und sterben deshalb häufig an Krankheiten, die leicht geheilt werden könnten. Dieser Sachverhalt steht in krassem Widerspruch zu den chinesischen Behauptungen, man habe "beim Recht der Menschen auf Lebensunterhalt und Entwicklung große Fortschritte erzielt".

Zudem wird das tibetische Volk bei den Planungsverfahren für die Modernisierung Tibets nicht beteiligt; es wird ihm somit das "Recht auf Selbstbestimmung" vorenthalten. Diese Wirtschafts- und Entwicklungsprogramme respektieren in keinerlei Weise die Gefühle, welche die Tibeter ihrem Land, sowie ihrer Kultur und religiösen Identität gegenüber hegen. Im Namen des "Western Development Programme" und des "Umweltschutzes" wurden zahlreiche Tibeter gegen ihren Willen zwangsweise umgesiedelt. Die von Tibetern und Kritikern der Entwicklungsprojekte vorgebrachten und ernst zu nehmenden Bedenken wegen der katastrophalen Auswirkungen auf die Umwelt und das ökologische Gleichgewicht der Region wurden ignoriert. Durch den Zustrom ethnisch chinesischer Zuwanderer nach Tibet erwachsen den geborenen Tibetern immense Probleme beim Erwerb ihres Lebensunterhalts.

Dem Weißbuch zufolge soll "das Bildungsniveau der ethnischen Minderheiten angehörenden Bürger gestiegen" sein. In der Plenarsitzung der 60. Versammlung der UN-Menschenrechtskommission (UNHCHR) bezeichnete die UN-Sonderberichterstatterin für Bildung, Katarina Tomasevski, die Bildungssituation in Tibet als "erschreckend". Anfang 2003 übte Frau Tomasevski im Anschluß an ihren Chinabesuch harte Kritik an der chinesischen Bildungspolitik und betonte hierbei besonders das Verbot von Religionsunterricht und die willkürlichen Schulgebühren, die viele Familien in die Verschuldung treiben. Auch die "Minoritätenbildung" in Tibet kritisierte sie scharf und verwies darauf, daß den Minderheiten aufoktroyierte Bildungsmaßnahmen dann deren Menschenrechte verletzen, wenn sie ihnen ihre religiöse und sprachliche Identität verwehren.

Weil den chinesischen Behörden jeglicher Unterricht in Religion zuwider ist, haben sie nun auch die Ngaba Kirti Klosterschule geschlossen, welche 800 Novizen religiöse Bildung zuteil werden ließ. Das tibetische Bildungssystem benutzen sie als Mittel zur Indoktrination mit kommunistischem Gedankengut. Die Schüler werden gezwungen, den Dalai Lama zu verunglimpfen, der Geschichtsunterricht wird ihnen aus chinesischer Sicht erteilt, während die meisten Lehrer inzwischen Chinesen sind.

Nach Auffassung des TCHRD handelt es sich bei der Veröffentlichung dieses Weißbuchs um ein weiteres taktisches Manöver zur Vermeidung einer öffentlichen Verurteilung der chinesischen Menschenrechtspraxis durch das zur Zeit in Genf abgehaltene multilaterale Forum der 60. Versammlung der UNHCHR*.

Die USA haben sich dafür entschieden, vor der Kommission eine UN-Resolution zur chinesischen Menschenrechtspraxis einzubringen, anhand derer die Mitgliedsstaaten Chinas Menschenrechtsverletzungen entweder kritisieren, verurteilen oder stillschweigend dulden können, falls die Resolution mit der notwendigen Mehrheit verabschiedet wird. Zwischen 1990 und 2002 wurden bei der UNHCHR zehn China betreffende Resolutionen eingebracht, die alle an dem chinesischen Nicht-Befassungs-Antrag scheiterten, aufgrund dessen die Mitgliedsstaaten entweder für eine Resolution oder dagegen stimmen müssen. Im Jahr 1995 führte der Nichtbefassungsantrag vorerst zu einem "Unentschieden", aber später gab eine Stimme den Ausschlag und mit 20 Stimmen dafür und 21 dagegen bei 12 Enthaltungen wurde die Resolution niedergeschlagen.

Das TCHRD konstatierte ein härteres staatliches Vorgehen, das mit anhaltenden Restriktionen und der Unterdrückung der Meinungs-, Versammlungs-, Vereinigungs- und Religionsfreiheit einhergeht. Willkürliche Festnahmen und Inhaftierung, unfaire Gerichtsverfahren, Folter, Mißhandlungen und Hinrichtungen waren die Regel. Diese Vorgehensweise gegen das tibetische Volk wurde mit der Bedrohung der Nation, der staatlichen Sicherheit und der sozialen Stabilität gerechtfertigt. Solange die Tibeter nicht beteiligt werden und von der Mitgestaltung an den chinesischen Entwicklungsprojekten ausgeschlossen bleiben, sind diese nichts anderes als Assimilationsinstrumente. Entgegen den offiziellen Behauptungen, der Lebensstandard sei gewaltig angestiegen, ist Tibet dem "United Nations Development Program" (UNDP) zufolge nach wie vor eine der ärmsten Gegenden der Erde. Das Bildungswesen wird immer mehr sinisiert, die Unterrichtssprache ist jetzt Chinesisch geworden, während das tibetische Erziehungssystem an den Rand gedrängt wird.

Angesichts all dieser schweren Menschenrechtsverletzungen in Tibet sollte die chinesische Regierung nicht von einem 2003 erfolgten Fortschritt auf dem Gebiet der Menschenrechte sprechen. Da China so viel am Kontakt mit dem Rest der Welt gelegen ist, da es seine politischen Kontakte ausweitet und eine aktive Rolle in der internationalen Arena spielen will, da es seinen Einfluß ebenso wie seine diplomatischen Anstrengungen vergrößert, um eine der Großmächte der Welt zu werden, muß die freie Welt ihrer Verantwortung gewahr werden und sich dafür einsetzen, daß China die Menschenrechte seiner eigenen Bevölkerung sowie die der Tibeter und anderer Volksgruppen auf seinem Staatsgebiet respektiert. Das TCHRD ist der Überzeugung, daß China so lange nicht von echter Entwicklung sprechen darf, wie es ihm an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung für die Menschenrechte mangelt.

Anm. Auch 2004 war China mit seinem Nichtbefassungsantrag wieder erfolgreich: Bei der Menschenrechtskommission stellten sich 28 von 53 Ländern hinter Chinas Antrag, die von den USA eingebrachte Resolution, welche "Besorgnis über die fortgesetzten Berichte schwerer Einschränkungen der Rechte auf Versammlung, auf Meinungs- Gewissens- und Religionsfreiheit zum Ausdruck brachte", zu blockieren. Auch Indien gehörte zu den Ländern, die für China stimmten.