Vorwort
Das Jahr 2003 begann für Tibet verheißungsvoll. Eine neue Generation von chinesischen Spitzenfunktionären - die meisten von ihnen Technokraten, die einen wirtschaftlichen Background haben - übernahm im März 2003 mit Hu Jintao als neuem Präsidenten die Führung der Staatsgeschäfte. Einhergehend mit dem zweiten Chinabesuch der Sondergesandten des Dalai Lama innerhalb eines Jahres und der zunehmenden Beteiligung Chinas an internationalen Angelegenheiten (und damit seiner Verpflichtung auf die Beachtung internationaler Verhaltensnormen, insbesondere der Menschenrechte) weckte dies Hoffnungen bei der internationalen Gemeinschaft und den Tibetern, daß eine sanftere Gangart in der Tibetpolitik Chinas vielleicht zu einem Neuanfang für das tibetische Volk führen könnte.
Aber dazu kam es nicht. Das ganze Jahr 2003 hindurch wurden die Bemühungen zur Verbesserung der Rechtsstaatlichkeit und des Justizwesens durch politische Kampagnen gegen mutmaßliche Oppositionelle unterlaufen. Die Rechte auf Rede-, Versammlungs- und Religionsfreiheit wurden stark eingeschränkt und weiterhin unterdrückt. Die willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen, unfaire Prozesse, Folter und Mißhandlung wurden nicht weniger, ebenso die gelegentlichen Hinrichtungen. Gerechtfertigt wurde dieses harte Vorgehen gegen das tibetische Volk mit Schlagworten wie "Gefährdung der Nation, der Staatssicherheit und der sozialen Stabilität".
Daß die Hardliner in der Tibet-Politik wieder das Sagen haben, machte sowohl die am 26. Januar 2003 erfolgte Hinrichtung des Tibeters Lobsang Dhondup als auch das Todesurteil gegen den angesehenen Lama Tulku Tenzin Delek deutlich. Die im Juli für ein weiteres Jahr beschlossene Verlängerung der "Hart-Durchgreif-Kampagne" von 2001 diente den Behörden zur Legitimierung ihrer Verfolgung aller als "spalterisch" angesehenen und vermeintlich "die Staatssicherheit gefährdenden" Aktivitäten. Natürlich wurden die Tibeter wieder die ersten Opfer dieser weitgefaßten und zweideutigen Verhaftungsgründe, deren genaue Interpretation China nach wie vor schuldig bleibt.
Bei den in Tibet lebenden Tibeter kamen der Prozeß hinter verschlossenen Türen, die darauf folgenden Todesurteile und die unmittelbare Exekution als eine beängstigende Botschaft an, die sie an das chinesische Brutalitätspotential erinnerte. Der Prozeß selbst und die Art des Verfahrens hinterließen bei Beobachtern der Lage ernsthafte Zweifel an der Fairneß der Justiz in China. Dies wirft auch auf die nach Darstellung der Chinesen in anderen Bereichen erzielten Fortschritte seine Schatten. Die unerwartete Art, in der die chinesischen Behörden die Hinrichtung vornahmen, ist ein Hinweis darauf, daß China ungeachtet aller den USA, der EU und der internationalen Gemeinschaft bezüglich eines gesetzeskonformen Prozesses gemachten Zusagen immer nur seinem eigenen Programm folgen wird.
Das TCHRD verurteilt scharf die Art und Weise, wie China den Begriff "Staatsgeheimnisse" in dem 1996 revidierten Strafverfahrensgesetz (Criminal Procedure Law - CPL) gebraucht. Dieser Begriff dient als Rechtfertigung dafür, daß den Angeklagten während des Ermittlungsverfahrens jeglicher Zugang zu Anwälten verweigert wird. Des weiteren bekam die Polizei durch das CPL enorme Machtbefugnisse bei der Inhaftierung von Verdächtigen. Ein himmelschreiendes Beispiel dafür, wie wenig das Strafverfahrensgesetz (CPL) entscheidende Rechte von Verdächtigen und Angeklagten in Strafverfahren schützt, ist die mit der Begründung, es gehe in dem genannten Fall um "Staatsgeheimnisse", vom Volksgerichtshof Sichuan ausgesprochene Weigerung, einen unabhängigen rechtlichen Beistand für Tulku Tenzin Delek zuzulassen. Ebenso wurde daran deutlich, wie "politisch benachteiligte" Angeklagte diskriminiert werden.
"Die chinesischen Behörden konnten nicht plausibel machen, warum der Fall Staatsgeheimnisse betreffen soll, und die Beweislage, anhand derer die Verurteilung erfolgte, blieb nebulös." Aus dem Bericht von Amnesty International: VR China - Justizirrtum? Der Fall Tenzin Delek Rinpoche und die damit verbundenen Verhaftungen - Oktober 2003.
Im Hinblick auf den Einfluß des tibetischen Buddhismus ist China geradezu paranoid. Das weiterhin bestehende Charisma des Dalai Lama wird als eine die Tibeter einigende Kraft und somit als potentielle Bedrohung der Einheit des Mutterlandes wahrgenommen. Diese Nervosität kommt in den Kontrollmaßnahmen der Behörden zur Unterhöhlung religiöser Studien und sonstiger religiöser Aktivitäten zum Ausdruck. Beispiele hierfür sind das Verbot der Zurschaustellung von Bildern des Dalai Lama, die Schließung von Schulen, die unter dem Verdacht stehen, "spalterische Ideologien" zu lehren, die ständige Einmischung der Behörden in die religiösen und die Verwaltungsangelegenheiten der Klöster, sowie die "patriotische Umerziehung" von Mönchen und Nonnen, bei der gelehrt wird, daß die Loyalität gegenüber dem Staat wichtiger als die gegenüber der Religion se. Derartige Restriktionen stehen in krassem Widerspruch zur chinesischen Verfassung, in der die Freiheit der Religionsausübung garantiert wird.
Die im Laufe des Jahres von China bei bi- und multilateralen Gesprächen bezüglich der Menschenrechte gemachten Versprechungen führten zu nichts anderem als einer Enttäuschung. Offenbar wurden diese Zusagen lediglich aus taktischen Gründen gegeben, um Zeit zu gewinnen und Kritik abzuwenden. Im August warf die Bush-Administration China vor, seine im Dezember 2002 eingegangenen Menschenrechtsverpflichtungen, auf Grund derer die USA beim Genfer Menschenrechtsforum vom März/April 2003 auf die Einbringung einer Resolution gegen Peking verzichtet hatten, nicht erfüllt zu haben.
"...sie haben eindeutig Versprechen gemacht, aber sie haben sie nicht gehalten. An dieser Stelle geht es nicht mehr nur um Menschenrechte. Die Frage ist vielmehr: Inwieweit können wir uns auf die von den Chinesen eingegangenen Verpflichtungen überhaupt verlassen?", sagte John Kamm, ein Menschenrechtsaktivist aus San Francisco, der die Geschehnisse in der VR China kritisch verfolgt.
Die Vorliebe Pekings für bilaterale Gespräche hat einzig den Zweck, bei internationalen Foren einer öffentlichen Verurteilung seiner Menschenrechtsverletzungen entgegenzuwirken; dabei setzt die bilaterale Diplomatie eigentlich voraus, daß die verhandelnden Parteien sich auch verpflichten, Mechanismen der Rechenschaftslegung und Transparenz sowie der Ahndung bei Nichterfüllung in Gang zu setzen.
Um Dick Oosting den Direktor des EU-Büros von Amnesty International in Brüssel zu zitieren: "Durch Chinas Beharren auf gegenseitigem Respekt und Nicht-Konfrontation in der Menschenrechtsfrage wurde die EU bisher als Geisel gehalten, blockiert durch einen formalen Menschenrechtsdialog - der den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in China keinerlei Erleichterung brachte. Bei einer reifen gegenseitigen Beziehung wissen jedoch alle Beteiligten ganz genau, daß die Beziehung zu Ergebnissen führen muß".
China brüstet sich seiner enormen Investitionen und Mammut-Entwicklungsprojekte in Tibet. Normalerweise sollte jedoch ein jedes Entwicklungsprojekt dem Recht der Menschen auf Selbstbestimmung dienen - und dazu gehört auch die Kontrolle über die Nutzung ihres Landes und seiner natürlichen Ressourcen. Dennoch werden in Tibet die Tibeter sowohl von den Entscheidungen als auch der aktiven Beteiligung an den Projekten ausgeschlossen. Die Stadtentwicklungsvorhaben haben nur den Zweck, Chinas wirtschaftliche und politische Kontrolle über Tibet zu konsolidieren. Der daraus resultierende Zustrom zig-tausender chinesischer Siedler stellt eine ernsthafte Bedrohung für den Lebensunterhalt der Tibeter dar. Das TCHRD ist der Überzeugung, daß der tatsächliche Zweck der gegenwärtigen Entwicklungsprojekte nichts als die Assimilation ist. Das Tempo, mit dem diese Projekte umgesetzt werden, wird schließlich den kulturellen Genozid am tibetischen Volk besiegeln.
Im März 2003 veröffentlichte China ein neues Papier zu seiner Tibetpolitik mit dem Titel: "Ökologischer Aufbau und Umweltschutz in Tibet". Darin werden die chinesischen Entwicklungsplanungen für Tibet verteidigt und die große Bedeutung des Umweltschutzes für das Land betont. Kritiker, zu denen nicht zuletzt die tibetische Bevölkerung zählt, stehen den ambitionierten Plänen jedoch skeptisch gegenüber und halten den Bericht für Propaganda. Ihrer Auffassung nach schädigt die forcierte wirtschaftliche Entwicklung in Tibet die Umwelt. Peking verwarf die Kritik natürlich und sagte, umweltpolitische Bedenken dürften die wirtschaftliche Entwicklung nicht hindern. "Obwohl die Chinesen in öffentlichen Verlautbarungen stets die Priorität der Umweltpolitik betonen, steht sie in der tatsächlichen Rangfolge weit hinter strategischen und ökonomischen Belangen", kommentierte die Tibet-Kennerin Kate Saunders.
Pekings Papier zur "Nationalen Minderheitenpolitik und ihrer Umsetzung in China" von 2002 spricht sich ausdrücklich gegen ethnische Diskriminierung oder Unterdrückung jeglicher Art aus; angeblich soll die Freiheit der Religionsausübung von ethnischen Minderheiten sowie der Gebrauch und die Verbreitung ihrer jeweiligen Sprachen in Wort und Schrift respektiert und geschützt werden. Die Tibeter werden von China als "ethnische oder nationale Minderheit" eingestuft.
Trotz dieser erklärten Politik werden die sie weiterhin diskriminiert. Pekings Unduldsamkeit gegenüber der Religionsausübung der Tibeter und die Schließung von tibetischen Schulen, welche die indigene Religion und Kultur sowie die gesprochene und geschriebene Sprache fördern, stellt sowohl einen Bruch der eigenen politischen Richtlinien als auch der von China am 31. März 1996 unterzeichneten und am 29. Dezember 1981 ratifizierten Internationalen Konvention zur Ausmerzung aller Formen der Rassendiskriminierung (International Convention on the Elimination of all Forms of Racial Discrimination - ICERD) dar.
Auf Geheiß Chinas wurden im Mai 2003 achtzehn tibetische Flüchtlinge von Nepal abgeschoben. In seiner Pressemitteilung vom 2. Juni 2003 bezeichnete Amnesty International diese zwangsweise Rückführung von Tibetern nach China als inakzeptabel: "Diese Operation stellt eine offene Mißachtung aller internationalen Normen von Menschenrechten und Flüchtlingskonvention dar. Es steht zu befürchten, daß diese Menschen Folterung und weiteren gravierenden Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt werden, deshalb rufen wir die chinesischen Behörden dazu auf, umgehend die Sicherheit der Betroffenen zu garantieren".
Im November kündigte der chinesische Botschafter in Nepal, Sun Heping, an, sein Land werde künftig den Strom der tibetischen Flüchtlinge, die er als "illegale Immigranten" bezeichnete, stoppen. Diesbezügliche Maßnahmen werden in Zukunft die Bewegungsfreiheit des tibetischen Volkes noch weiter einschränken. Mit der Wirkung dieser Maßnahmen über die Grenzen hinweg ist zu befürchten, daß immer mehr tibetische Flüchtlinge gefaßt und inhaftiert werden. Das TCHRD sieht in den von der chinesischen Regierung getroffenen Maßnahmen, um das Recht der Tibeter auf Freizügigkeit sogar noch jenseits der Grenze einzuschränken, einen unmittelbaren Versuch, den freien Informationsfluß an die Weltöffentlichkeit zum Erliegen zu bringen.
In seiner Rede auf dem Genfer Weltgipfel zur Informationsgesellschaft am 10. Dezember 2003 vermied der chinesische Informationsminister Wang Xudong peinlichst jede Erwähnung des unbefriedigend gehandhabten bzw. dringend verbesserungswürdigen Rechts auf Informations- und Redefreiheit. Statt dessen sprach er vom Fortschritt als der Basis für den Aufbau der Informationsgesellschaft - wieder einmal eine Demonstration eines chinesischen Ablenkungsmanövers von der eigentlichen Problematik.
Der Empfang und die Weiterleitung von Informationen, der Austausch von Ideen und Meinungen sowie ihre Diskussion sind wesentliche Elemente für eine Veränderung und Weiterentwicklung von Gesellschaften. Im Gegensatz dazu wurden in China seit 1993 mehrere Gesetze und Verordnungen zur Einschränkung der Nutzung von Informationstechnologien erlassen. Der Report von Amnesty International "Die VR China: Staatliche Kontrolle des Internets im Jahr 2002" berichtet über die Festnahme von 33 Personen, weil sie Informationen mittels des Internets weitergeleitet bzw. aus dem Internet heruntergeladen hatten.
Verglichen mit dem restlichen China bleibt die Internet-Nutzung durch Tibeter weiterhin marginal; teilweise liegt dies wohl an der mangelhaften Schulbildung und der hohen Rate von Analphabeten in Tibet. Die Störung von Radio- und Fernsehprogrammen ist eine weitere häufig angewandte Methode zur Kontrolle alternativer Informationsquellen. Im vergangenen Jahr wurden viele Tibeter wegen Weitergabe von Informationen an die Außenwelt zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
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