16. März 2008
TibetInfoNet
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Unruhen in Labrang und Osttibet

Die anhaltenden Unruhen in Lhasa sind seit einigen Tagen in den internationalen Medien ein zentraler Gegenstand der Berichterstattung. Bei der gegenwärtigen Krise in Tibet  scheint es sich um eine beispiellose Entwicklung zu handeln, welche eine Vielzahl von Orten in den tibetischen Regionen der Volksrepublik China (VRC) ergriffen hat – was, wie erwartet, starke Beunruhigung in Beijing ausgelöst hat. Labrang  (Chin: Xiahe) zum Beispiel, welches im traditionellen Tibet eines der Hauptzentren der Provinz Amdo war und heute zu der chinesischen Provinz Gansu gehört, erweist sich als eines der Epizentren der Ereignisse. Am 15. März 2008 fand eine Protestkundgebung in Labrang statt, womit die Demonstrationen fortgesetzt wurden, die tags zuvor in offenkundiger Reaktion auf die Proteste in Lhasa begonnen hatten. Allerdings war der Protest in Labrang im Unterschied zu Lhasa am Freitag, allein von politischen Forderungen geprägt und führte nicht zu ethnischen Zusammenstößen.

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Nach Aussagen von Teilnehmern an den Demonstrationen aus Labrang formierten diese sich im Anschluß an eine jährlich stattfindende religiöse Versammlung, die als Nyipi Tsogchen bekannt ist. Sie wird im zweiten Mondmonat abgehalten und geht auf Rituale zur Vertreibung von bösen Geistern zurück. Es wird von einer erheblichen Präsenz chinesischer Sicherheitskräfte inklusive Soldaten und bewaffneter Volkspolizei in und um Labrang bereits vor den Demonstrationen berichtet. Die Atmosphäre wurde als angespannt beschrieben, da Sicherheitskräfte in Kampfausrüstung in der offensichtlichen Absicht, die Bevölkerung einzuschüchtern durch die Straßen marschierten.

Nachdem sie mit den feierlichen religiösen Ritualen eine Stunde eher als geplant begonnen hatten, marschierten Mönche und Laien anschließend zum Hauptquartier der örtlichen Regierungsvertretung, wobei sie eine beispiellose Anzahl der verbotenen tibetischen Nationalflagge und Portraits des Dalai Lama mit sich führten und immer wieder bestimmte Parolen riefen.

Ein Mönchsnovize informierte TibetInfoNet, daß die Menschen Parolen wie „Lang lebe der Dalai Lama und möge er nach Tibet zurückkehren!“ „Menschenrechte für Tibet! „Schafft die Ein-Kind Familienplanungspolitik ab!“ „Unabhängigkeit für Tibet und mögen jene im Exil mit uns bald wiedervereinigt werden!“ riefen. Schätzungsweise haben sich etwa 3000 Mönche und Laien an den Demonstrationen beteiligt, die für die dortigen Verhältnisse ausgesprochen groß ausfielen.

Nach der Kundgebung vor der örtlichen Regierungszentrale warfen die Demonstranten Steine und andere Gegenstände gegen ein staatliches Restaurant sowie gegen das Büro der staatlichen chinesischen Telekommunikationsgesellschaft, welche von den Einheimischen beschuldigt wird, keine Tibeter einzustellen.

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Danach zogen die Demonstranten weiter zum Hauptquartier der bewaffneten Polizei und anschließend zu der örtlichen tibetischen Mittelschule. Demonstranten befreiten Schüler, die daran gehindert worden waren, die Schule zu verlassen, und die sich dann in die Reihen der Protestierenden einreihten. Die Demonstration fand ihren Höhepunkt in einer öffentlichen Zeremonie, bei welcher Räucherwerk verbrannt wurde. Als der Protest lautstärker und die Menge größer wurde, setzten die Sicherheitskräfte Tränengas ein, um die Demonstranten auseinander zu treiben. Ein Pilger nomadischer Herkunft, der den Einsatz beobachtete, sagte, daß dort lautes Knallen und anschließend Rauch die Luft erfüllten, während Menschen entweder zu Boden fielen, was er auf den Verlust des Bewußtseins zurückführte, oder die Orientierung verloren. Ein an der Demonstration beteiligter Mönch bestätigte diese Aussage und fügte hinzu, daß die Bewegungsfreiheit in und um Labrang jetzt hochgradig eingeschränkt ist. Er schloß mit den Worten, daß „der verursachte Schaden an den Gebäuden bedauerlich sei, aber insgesamt seien die Demonstrationen friedlich gewesen.“

Außerdem kamen Mönche in großer Anzahl im Kloster Lutsang (Provinz Qinghai) und im Kloster Myera (Provinz Gansu) zusammen und forderten die Rückkehr des Dalai Lama. Ständig kommen neue Informationen über vor kurzem gewesene oder aktuelle Demonstrationen aus der Region in einem schnelleren Tempo herein, als daß Bestätigungen möglich wären.

Quellen aus Amdo Ngaba (Provinz Sichuan) geben an, daß sieben Demonstranten erschossen und Dutzende von den chinesischen Sicherheitskräften verletzt wurden. Entsprechend einer anderen tibetischen Quelle haben Proteste, bei denen die tibetische Unabhängigkeit gefordert wurde, und bei denen die Demonstranten die tibetische Nationalflagge und das Portrait des Dalai Lama zeigten, zumindest an zwei unterschiedlichen Orten in Amdo Machu (Qinghai) stattgefunden. Es wird ebenfalls berichtet, daß zwei verschiedene Nomadengruppen in Lithang (Sichuan) am 15. März anti-chinesische Demonstrationen durchgeführt haben.

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Die Proteste im östlichen und nordöstlichen Hochland zusammen mit den Tumulten in Lhasa zeigen, daß die administrative Aufteilung und Eingliederung Tibets in verschiedene Provinzen des heutigen China (die autonome Region Tibet, wie auch die Provinzen Gansu, Yunnan, Qinghai und Sichuan) nicht den gesamttibetischen Sinn von Identität und Zugehörigkeit auslöschen konnten. Verbittert durch die langwährende Ungerechtigkeit der chinesischen Behörden und im Bewußtsein einer gemeinsamen Kultur und Geschichte haben die Tibeter gelernt, die modernen Kommunikationstechnologien zu nutzen, um regionale wie internationale Grenzen zu durchbrechen. Chinas aufstrebende Wirtschaft und die daraus resultierende Teilhabe an der sich globalisierenden Welt machen es immer schwerer, die Tibetfrage als ‚Innere Angelegenheit‘ zu behandeln.

Die aktuelle Protestwelle begann mit friedlichen Protestmärschen am 10. März (dem 49. Jahrestag des Aufstands in Lhasa, der zur Flucht des Dalai Lama ins Exil führte). An diesem Tag wurde von Zusammenstößen aus dem Kloster Labrang Tashikyil im Bezirk Sangchu berichtet, wo buddhistische Mönche einen Demonstrationszug von 200 Menschen anführten. Ein Agence France-Presse (AFP) Fotograf berichtete, daß 15 Mönche die Straße entlanggelaufen sein, und sich ihnen schnell ca. 200 Menschen angeschlossen hätten. Die Polizei stellte sich ihnen entgegen, stoppte die Demonstranten und konfiszierte politische Flugblätter. 

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Der Aufstand des 10. März ist üblicherweise von Spannungen und kleineren Ausschreitungen gekennzeichnet. Sowohl die Tibeter in Tibet, als auch die chinesischen Behörden wissen, daß dieses Datum von Exiltibetern als Tag des nationalen Aufstands begangen wird. China als Gastland der Olympischen Spiele 2008 verstärkt zudem die internationale Dimension der Demonstrationen und wird von den tibetischen Demonstranten deutlich als Möglichkeit gesehen, die Welt auf ihre Notlage hinzuweisen.

Eine junger tibetischer Intellektueller aus Labrang kommentierte die aktuellen Demonstrationen mit den Worten: „Olympische Athleten spannen jede Sehne und jeden Nerv für ihre betreffende Nation an sowie für die Möglichkeit ihre Nationalhymne zu singen und ihre Flagge zu hissen. In dieser Weise sollten wir [Tibeter] alles in unserer Macht stehende tun, um unser Leiden durch die Hände des chinesischen Imperialismus während der Olympischen Spiele zu zeigen.“

Das Ausmaß und die Intensität der chinesischen Reaktion auf die Proteste in Tibet kann noch nicht abgeschätzt werden. Die Behörden versuchen es zu vermeiden, die internationale Öffentlichkeit mit Bildern ihrer brutalen Gewaltanwendung aufzuschrecken. Frühere Erfahrungen zeigen allerdings, daß die Vergeltung an Dissidenten vielfach weniger sichtbare, aber nicht weniger rücksichtslose Formen annimmt, darunter geheime Verhaftungen, Ausschließung von Mönchen aus ihren Klöstern, außergerichtliche Strafen, welche mit durch nichts eingeschränkten Verletzungen der Menschenrechte einhergehen. Aber es stellte sich ebenfalls heraus, daß derartige Repressionen letztlich auch die internationale Öffentlichkeit erreichen, wenn sie auch weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen als dramatische Bilder von Straßenkämpfen und Unruhen.

Die östlichen Landesteile Tibets geraten häufig aus dem Fokus der Aufmerksamkeit, die Zentraltibet regelmäßig erhält. Allerdings ändert die Wißbegierde der Tibeter sowie ihre fortgeschrittenen Fähigkeiten im Umgang mit der wachsenden Fülle von Kommunikationsmöglichkeiten allmählich dieses Ungleichgewicht.

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TibetInfoNet hat Informationen aus Labrang erhalten, daß Massenverhaftungen und Prügeleinsätze stattfinden, und daß die Bewegungsfreiheit der Tibeter eingeschränkt wurde, während chinesische Sicherheitskräfte in den Straßen in massiver Weise präsent sind. Ein Student, der an beiden Demonstrationen in Labrang teilgenommen hat, berichtet, daß er von drei Laien und einem Mönch weiß, die nach der Niederschlagung der Proteste verhaftet worden sind. Ein Mönch namens Tenzin vom Gyulmal College wurde mehrmals derart geschlagen, daß er gehunfähig zurückblieb.

Anmerkung: zwei Kurzfilme, die eine Menschenmenge bei Demonstrationen in Labrang zeigen, sind über die Website der Exil-Tibeter www.phayul.com unter folgender Adresse zugänglich: http://media.phayul.com/?av_id=89.