15. September 2007
TibetInfoNet
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Tendenz zur Radikalisierung unter den Tibetern in Lithang

Die Informationen, die uns nach dem Vorfall vom August, als ein Nomadenchef in aller Öffentlichkeit die Rückkehr des Dalai Lama forderte, aus Tibet erreichen, weisen auf eine Eskalation der Konfrontation zwischen den einheimischen Tibetern und den chinesischen Behörden in der Region von Lithang (chin. Litang), Präfektur Kardze (chin. Ganzi), Provinz Sichuan, hin. So verlautet, daß die chinesischen Behörden eine intensive Kampagne gestartet haben, um ortsansässige Tibeter in öffentlichen Positionen zu zwingen, den Dalai Lama vor laufender Videokamera zu verunglimpfen. Ein bei dem dortigen Pferderennen kursierendes Flugblatt zeigt indessen eine Radikalisierung unter den Tibetern an. Heute, im sechsten Jahrzehnt nach der Machtergreifung der VR China in Tibet, und obwohl sie im Vorfeld zu den Olympischen Spielen in Peking im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit steht, setzt die Regierung, um der Unzufriedenheit unter den in Lithang einheimischen Tibetern Herr zu werden, immer noch auf denselben harten Konfrontationskurs, der die Region zu einer der unruhigsten in ganz Tibet gemacht hat.

Der Sommer in Osttibet, der Region, die bei den Tibetern traditionell als Kham bekannt ist, ist die Saison der Pferderennen, und das berühmteste davon findet in Lithang statt. Die chinesischen Behörden haben diesem Fest sogar einen besonderen Status eingeräumt, indem sie es als eine wichtige Attraktion für den nationalen und internationalen Tourismus fördern, sowie als Modell für tibetische Tradition oder Pseudotradition (wie das Tragen von üppiger Pelzbekleidung, bis diese Unsitte Anfang 2006 vom Dalai Lama scharf kritisiert wurde). Ironischerweise hat die Förderung des Festes durch die Behörden auch dafür gesorgt, daß jedwedes Vorkommnis hier auf großes internationales Echo stößt.

Am 1. August 2007 rief ein tibetischer Nomadenchef, der als Runggyal Adak bekannt ist, von einer Festtribüne herab, der Dalai Lama solle nach Tibet zurückkehren. Er wurde unverzüglich in Gewahrsam genommen – trotzdem ging der Vorfall schon nach wenigen Stunden durch die internationalen Medien. Am 3. August bestätigte die offizielle chinesische Nachrichtenagentur Xinhua den Zwischenfall und behauptete, Runggyal Adak hätte die Absicht gehabt, das „Land zu spalten und die nationale Einheit zu schädigen“. Die Lage eskalierte rasch, und Hunderte von Tibetern ließen sich zu Anfang in einer Art Sitzstreik auf den Straßen um die Polizeistation nieder, in der sie Runggyal Adak wähnten. Später zogen sie an den Stadtrand und gelobten, den Platz nicht zu räumen, solange Runggyal nicht entlassen werde.

Inzwischen hatte ein großes Kontingent an Sicherheitskräften Lithang erreicht und Checkposts eingerichtet und den Kommunikationsfluß unter Kontrolle gebracht. Das erste von den Behörden gesetzte Ultimatum am 8. August verstrich zwar ohne Zwischenfall, aber diese Pattsituation fand schließlich ein paar Tage später ein Ende, als dortige tibetische Respektspersonen die Nomaden eindringlich gebeten haben, das Feld zu räumen, damit es nicht zu einem gewaltsamen Zusammenstoß mit den Behörden komme. Dem in Hong Kong ansässigen Information Centre for Human Rights and Democracy zufolge wurde gegen Runggyal Adak am 27. August Klage erhoben und am 11. September gegen seinen Verwandten Adruk Lopoe, der angeblich der Kopf hinter dem Vorfall vom 1. August sei – in beiden Fällen wegen „Aufhetzung zur Zerrüttung der Staatsgewalt“. Man vermutet, daß die beiden noch vor der Tagung des 17. Parteikongresses im Oktober vor Gericht gestellt werden sollen.

Anfang September berichtete Radio Free Asia von einer Säuberungsaktion unter den örtlichen Führungskräften, bei der mehrere tibetische Kreisvorsteher durch Chinesen ersetzt wurden.

TibetInfoNet erfuhr, daß am 11. September ein „hochrangiger chinesischer Funktionär auf der Stufe eines Ministers“ mit einer großen Zahl von Sicherheitskräften in Lithang eingetroffen ist und angekündigt hat, er werde sechs Monate lang bleiben. Geistliche und „gebildete Tibeter“ wurden zu Besprechungen einbestellt und unterrichtet, daß sie den Dalai Lama zu denunzieren hätten. Sie wurden weiterhin belehrt, daß die USA und Europa China gegenüber feindselig eingestellt seien und daß der Dalai Lama sich in ihrem Auftrag chinafeindlich äußere, indem er die Religion zu politischen Zwecken mißbrauche, während er sich von den USA und Europa aushalten lasse. Sie wurden sodann aufgefordert, in diesem Sinne Stellungnahmen gegen den Dalai Lama abzugeben, und informiert, daß diese Erklärungen auf Video festgehalten würden. Unseren Quellen zufolge stellte man ihnen bei Fügsamkeit Belohnungen in Aussicht, jene hingegen, die sich rundheraus weigerten, wurden in Gewahrsam genommen und anderen wiederum wurde eine Frist gesetzt, in der sie sich fügen mußten. Diese Details bedürfen jedoch noch weiterer Bestätigung. Es gibt auch unbestätigte Berichte, daß Mönche und tibetische Angestellte in chinesischen Ämtern angehalten wurden, gegen den Dalai Lama zu demonstrieren und dabei Kleidung aus Tierfellen zu tragen.

Die Gegend von Lithang und die weitere Präfektur Kardze (chin. Ganzi), gelten, seit die Volksrepublik China nach Tibet kam, als besonders renitente Region. Zu den ersten bewaffneten Konfrontationen zwischen chinesischen Truppen und Einheimischen kam es hier in den Fünfzigern, die Gegend spielte auch eine entscheidende Rolle bei der Bildung der „Khampa“-Guerilla-Bewegung, die zwei Jahrzehnte währte(1). Die Spannungen in der Präfektur nahmen in den letzten Jahren zu nach Razzien der Behörden bei buddhistischen Lehrmeistern, die sie im Verdacht hatten, dem Dalai Lama nahezustehen, – vor allem sind hier Khenpo Jigme Phuntsog und Tenzin Deleg Rinpoche und ihre Anhänger zu nennen; darüber hinaus gab es noch einige weniger spektakuläre Vorfälle. Das spiegelt sich auch in der Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Tibeter in der Region wider. Von den 81 derzeit bekannten tibetischen politischen Häftlingen kommen 24 oder circa ein Drittel aus der Provinz Sichuan, und von diesen wiederum 15 oder etwa ein Fünftel allein aus der Präfektur Kardze. Zudem wurden 14 von ihnen 2004 oder später und elf 2006 oder später festgenommen.

Sicher hat Runggyal Adaks Aktion die Aufmerksamkeit der Medien in der ganzen Welt auf sich gezogen, aber es scheint nicht der einzige Ausdruck von tibetischer Unzufriedenheit bei dem Pferderennen von Lithang gewesen zu sein. TibetInfoNet erhielt ein Bild von einem geheimen Flugblatt, das entweder am ersten oder zweiten Tag des Festes verteilt worden war. Seine Botschaft ist im Grunde weit radikaler als das, was Runggyal Adak äußerte. Der Text ist handgeschrieben und auf Tibetisch, und obwohl der erste Teil fehlt, ist aus dem Zusammenhang ersichtlich, daß er sich an die chinesische Obrigkeit wendet. Der erhalten gebliebene Teil lautet:

„[Ihr] habt [Tibeter] umgebracht und unseren hartverdienten Reichtum an euch gerissen. 50 Jahre lang wurden Natur und Umwelt, die Wälder, die wild lebenden Tiere und die Bodenschätze, die unsere Vorfahren hüteten wie ihr eigenes Leben, schamlos und unersättlich von euch ausgebeutet. Darüber hinaus trachtet ihr danach, unsere Religion und Kultur zu zerstören. Niemals, auch in 10.000 Jahren nicht, werden die sechs Millionen Tibeter das Leid dieser Verfolgung vergessen. Wir verlangen die Unabhängigkeit für Tibet. Jede Verzögerung [bei der Erfüllung dieser Forderung] wird nur dazu führen, daß Zehntausende von Tibetern entschlossen ihr Leben opfern werden“.

Besonders auffällig bei dieser Erklärung ist, daß entgegen den meisten vergleichbaren Dokumenten und den überlieferten Worten Runggyal Adaks darin der Dalai Lama nicht erwähnt wird und sie statt dessen einen ausgesprochen kämpferischen Ton hat. Das könnte darauf hinweisen, daß ein Teil der tibetischen Bevölkerung, der über die Unnachgiebigkeit der chinesischen Behörden zunehmend frustriert ist, den Kurs von Gewaltlosigkeit und Entgegenkommen des tibetischen Oberhaupts allmählich zurückweist und nun nach radikaleren Optionen sucht. Daß eine solche Entwicklung möglich sein könnte, wurde von einer Reihe von Beobachtern der Tibet-Frage schon vorausgesagt und befürchtet. Sie könnte auch aufzeigen, daß die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckenden Bemühungen der chinesischen Regierung, den tibetischen Widerstand in der Region durch Repression und Propaganda zu brechen, den Einfluß des Dalai Lama oberflächlich abgeschwächt haben mögen, aber eben dieses Vorgehen der Behörden hat auch den Weg für gewaltsame Zusammenstöße, deren Wurzeln weit zurück bis in die 50er Jahre zu suchen sind, geebnet.

(1) Diese Bewegung ist unter Tibetern eher bekannt als Chushi Gangdrug („Vier Flüsse, sechs Bergketten“).

Bilder der chinesischen Tourismusbroschüre, des Klosters Lithang und des erwähnten Flugblatts gibt es auf der Website von TibetInfoNet (zum Vergrößern Bilder anklicken): http://www.tibetinfonet.net/content/update/79