19. Dezember 2001

TIBET INFORMATION NETWORK

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Der "Nationaltag" und die politischen Pflichten der Tibeter

Die chinesische Regierung beging den 52. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China (den "Nationaltag") in Tibet mit einer Fahnenzeremonie auf dem Potala Platz in Lhasa. Hunderte von Militärs und Tibeter wohnten der Zeremonie bei, darunter auch Schulkinder, die hinter einer roten Fahne hermarschierten (Photos der Zeremonie finden sich unter www.tibetinfo.net/reports/trlead/nationalday1.htm). Die Bewohner der tibetischen Hauptstadt mußten zu diesem Anlaß rote Fähnchen kaufen und zur Schau zu stellen, und einige wurden mit Geldstrafen belegt, weil sie sie nicht auf ihren Läden und Häusern flattern ließen. Unlängst TIN zugegangene Berichte handeln von der zunehmenden Frustrierung und dem Groll vieler Tibeter darüber, daß sie zur Teilnahme an derartigen politischen Zeremonien und Versammlungen gezwungen werden.

Ein Tibeter aus Lhasa, der inzwischen ins Exil gelangt ist, erzählte TIN: "Die lokalen Nachbarschaftskomitees mahnten die örtlichen Bewohner, anläßlich des 52. Gründungstages der Volksrepublik China ihre Liebe zum Mutterland und ihre Dankbarkeit der Partei gegenüber durch Kauf und Ausstellen der chinesischen Nationalflagge am 1. Oktober zu bekunden. Dies sei eine politische Pflicht, hieß es". Dieselbe Quelle erwähnte, einige Tibeter in dem Lhasaer Stadtteil Shol, welche die Flagge nicht zur Schau stellten, seien mit bis zu mehreren Hundert Yuan Strafe belegt worden. Ebenso seien Haushalte, welche die Flagge nicht wehen ließen, von den Nachbarschaftskomitees zur Rede gestellt worden.

Ein Westler, der einige Zeit in Lhasa gelebt hatte, kommentierte: "Viele gebildete Tibeter äußerten mir gegenüber, daß sie die Annehmlichkeiten der Moderne zwar schätzen, aber sich in einer völlig erstickenden Lage befinden, weil sie unter einem Regime leben müssen, wo sie die Dinge, die sie wollen, nicht tun und ausdrücken können. Zur Umschreibung des chinesischen kommunistischen Staates verwenden sie das tibetische Wort dzunma, das im umgangssprachlichen Sinn falsch oder unecht bedeutet". Ein ursprünglich aus Lhasa stammender tibetischer Gelehrter, der jetzt im Exil lebt, meinte TIN gegenüber: "Tibeter verwenden das Wort dzunma, um das kommunistische System und die Gesellschaft, in der sie leben, zu kennzeichnen. Im allgemeinen halten die Tibeter in Lhasa nichts von den politischen Zeremonien, zu deren Teilnahme sie aufgefordert werden, aber sie haben keine andere Wahl. Sie wurden gezwungen, sich an die Führung eines Doppellebens zu gewöhnen".

Ein tibetischer Journalist, der Kontakt zu Tibetern in der Gegend hat, berichtet, viele tibetische Kader und Gelehrte seien verärgert, nachdem auf die Periode der Liberalisierung (Anfang der achtziger Jahre) hin nun seit Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre immer mehr Druck auf sie ausgeübt wird, politische Versammlungen zu besuchen. Er erklärte TIN: "Heutzutage haben sich die tibetischen Kader und Intellektuellen gewissermaßen in den Umstand gefügt, daß sie zu den politischen Versammlungen gehen müssen; sie akzeptieren dies als etwas, was zum Leben gehört, als ein auferlegtes Ritual, um das sie nicht herumkommen. Seit Guo Jinlong das Amt des Parteisekretärs (im Herbst 2001) in Tibet übernahm, scheint es, daß die Versammlungen zwar nicht mehr politisch so intensiv sind, aber einige Kader sind besorgt, weil immer öfters von den einzelnen Anwesenden verlangt wird, etwas über Themen wie den Dalai Lama und die Spalter von sich zu geben, statt einfach den Reden zuzuhören. Insgesamt scheint mir jedoch, daß tibetische Intellektuelle sich weniger darüber Sorgen machen, politischen Versammlungen beiwohnen zu müssen, als über Probleme, die direkt ihre Kultur und ihre Hochschulstudien betreffen, wie beispielsweise die Verschlechterung des akademischen Standards an der Tibet Universität und die Abwertung der tibetischen Sprache".

Besonders im Vorfeld zu dem Besuch des chinesischen Vizepräsidenten Hu Jintao in Lhasa im Juli, anläßlich der Feiern zum 50. Jahrestag der "friedlichen Befreiung", wurde den politischen Versammlungen besonderer Wert beigemessen. Tibetische Autoren und Gelehrte von Institutionen wie der Akademie der Sozialwissenschaften und der Tibet Universität wurden aufgefordert, einer Reihe von Ansprachen des jetzigen Parteisekretärs der Autonomen Region Tibet Guo Jinlong und anderer Funktionäre beizuwohnen. Als Guo Jinlongs Vorläufer Kuiyuan im September 1999 eine Gedichtsammlung herausgab, mußten tibetische Literaten die Feierstunde zur Lancierung des Buches besuchen. "Allen anwesenden tibetischen Schriftstellern wurde nahegelegt, sich zu den Gedichten zu äußern", erzählte ein nun im Exil lebender tibetischer Autor, "sie lasen eben vorbereitete Texte vor, die natürlich voller Lobhudelei für die Gedichte waren".

Auch die Publikationen der Partei zu abonnieren, gilt als eine "politische Pflicht". Die Zentralregierung gab neuerlich eine Direktive heraus, derzufolge Parteikörper, Regierungsbüros und staatliche Unternehmen die Hauptzeitung der Partei und das "Theoretische Journal" beziehen müssen. Bei einer Konferenz zur Besprechung dieser Direktive erklärte Guo Tianlin, der Chef der Propaganda-Abteilung der Autonomen Region Tibet, vor höheren Funktionären der TAR: "Partei-Organisationen jeder Ebene müssen ernsthaft den Geist der Anweisung der Zentralregierung in die Tat umsetzen und sich befleißigen, die Parteizeitung People's Daily, sowie das Magazin Qiu Shi ("Streben nach Wahrheit") zu abonnieren" (Tibet Daily, 28. November).

"Nationaltag" in Lhasa

Die offizielle Feier zum Nationaltag in Lhasa war kurz und weniger aufwendig verglichen mit den größeren Feiern zum 50. Jahrestag der "friedlichen Befreiung", die im Juli vom chinesischen Vizepräsidenten Hu Jintao besucht wurden. Die Feier, die aus einer Militärparade auf dem Platz, dem Vortrag der chinesischen Nationalhymne durch eine Militärkapelle und dem Hissen der chinesischen Flagge bestand, wurde von verschiedenen TAR Funktionären und Hunderten von Tibetern besucht, die gruppenweise auf den Platz zogen. Die offizielle Nachrichtenagentur Xinhua lieferte ein gutes Beispiel von dem, was Tibeter wohl als dzunma empfinden, indem sie die Worte des Grundschul-Zweitklässlers Bianzhen zitierte: "Bei uns in der Schule gibt es oft Flaggenappelle, aber so eine feierliche und heilige Flaggenerhebung auf dem Potala Platz mitzuerleben, macht mich echt stolz und begeistert" (Xinhua, 1. Oktober 2001).

Die Flaggen-Zeremonie auf dem Potala Platz gibt der chinesischen Regierung die Chance, öffentlich ihre Kontrolle über die Region zu demonstrieren. Die feierliche Begehung des Jahrestages der Gründung der VR China hat außerdem noch einen wichtigen wirtschaftlichen Aspekt, nämlich die Förderung des Tourismus. Die Zeit um den Nationaltag ist eine der Hauptferienzeiten in China, und Chinas Kampagne, Tibet als Reiseziel nicht nur für Touristen aus dem Ausland sondern auch aus dem Inland zu entwickeln, zeitigt mit Tausenden von chinesischen Touristen, die während der Nationaltag-Ferien Lhasa besuchen, immer mehr Erfolg.

NB: Sieben den Nationaltag und andere Ereignisse betreffende Photos stehen unter www.tibetinfo.net/reports/trlead/nationalday1.htm im Internet.

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