Dezember 2004

Free Tibet Campaign
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Interview mit FTC

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Geshe Lobsang Tenpa über seinen Lehrer Tenzin Delek Rinpoche

Quelle: www.freetibet.org/campaigns/tdr/interview.html

Geshe Lobsang Tenpa kam im November nach Großbritannien, um bei der Kampagne für die Freilassung des ehemaligen religiösen Lehrmeisters Tenzin Delek Rinpoche mitzuhelfen. Er war im Jahr 2000 nach Tibet zurückgekehrt und dort verhaftet und gefoltert worden, weil er dem Rinpoche bei dessen gemeinnütziger Arbeit beistehen wollte. Nach seiner Freilassung floh er aus Tibet und lebt jetzt in den USA.

Paul Golding und Simon Clydesdale führten das Interview, bevor die Nachricht von der lebenslangen Haftstrafe für Tenzin Delek Rinpoche bekannt wurde. Es dolmetschte Tsering Topgyal.

Paul:

Wann sind Sie Tenzin Delek Rinpoche das erste Mal begegnet?

Geshe:

Ich traf den Rinpoche 1980 zur Zeit der politischen Liberalisierung in China und Tibet unter Deng Xiaoping. Damals gab es mehr religiöse Freiheit - einige zerstörte Klöster wurden restauriert und ältere Mönche konnten wieder ins Kloster zurückkehren, Jugendliche unter 18 Jahren blieb der Eintritt ins Kloster allerdings von Gesetzes wegen verwehrt. Deshalb gab der Rinpoche jungen Tibetern die Gelegenheit zu einer monastischen Ausbildung. So erhielt auch ich die Chance, Mönch zu werden.

1985 traf ich ihn in Indien wieder und studierte dort unter seiner Anleitung zwei Jahre die buddhistische Lehre. 1987 kehrte der Rinpoche nach Tibet zurück, in Befolgung der Worte Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, daß es die wahre Pflicht eines Lama sei, den einfachen Menschen zu dienen. Er hatte dem Rinpoche geraten, nach Tibet zu gehen, um für die dort lebenden Tibeter zu sorgen. Von 1987 bis 1998 blieben wir stets in Verbindung miteinander. Als ich dann 1998 nach Tibet zurückkehrte, hatte ich die Gelegenheit, einen Monat mit dem Rinpoche zu verbringen. Er war gerade dabei, in der Gegend eine Schule aufzubauen. Er hatte nämlich festgestellt, daß die Tibeter in unserer Gegend der modernen Gesellschaft um mehr als 100 Jahre hinterher hinkten und nur drei oder vier von tausend Tibetern über Schulbildung verfügten. Der Rinpoche bat mich, ihm bei seinen Schulprojekten zu helfen. Im Jahr 2000 kehrte ich daher in der Hoffnung, ihn bei seinen schulischen, sozialen und wirtschaftlichen Projekten unterstützen zu können, nach Tibet zurück. Aber als ich dort ankam, wurde ich vom Strudel der politischen Ereignisse mitgerissen und war weit davon entfernt, dem Rinpoche beistehen zu können. Schließlich glückte mir die Flucht aus Tibet und ich ging nach Amerika, um dort Asyl zu beantragen. In den Jahren 2000 bis 2002 gelang es mir, den Kontakt zum Rinpoche über Telefon aufrechtzuerhalten. Das ist das Wichtigste, was über meine persönliche Beziehung zum Rinpoche zu sagen wäre.

Paul:

Können Sie uns den Rinpoche beschreiben? Wie sieht ihn die Bevölkerung?

Geshe:

Der Rinpoche ist ein Mensch, für den die Gerechtigkeit sehr wichtig ist und der sich furchtlos und offen dafür einsetzt. Das ist auch der Grund für seine Probleme mit den chinesischen Behörden. Er gehört zu denen, die hundertprozentig hinter Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama stehen und ihn unterstützen. Der Rinpoche pflegte den Leuten zu sagen, daß jedermann den Lehren Seiner Heiligkeit des Dalai Lama folgen und seinen Standpunkt unterstützen müsse, wenn die soziale Ordnung, die nationale Einheit und der Weltfrieden gewahrt werden sollen. Wenn der Rinpoche auf einen armen und bedürftigen Menschen traf, konnte man sicher sein, daß er, um ihm zu helfen, keinen Stein auf dem anderen lassen würde.

Obwohl Lithang - eine Nomadengegend mit ungefähr 50.000 Einwohnern - nicht besonders dicht besiedelt ist, sind es bestimmt mehr als 40.000, bei denen der Rinpoche ein hohes Ansehen genießt. Wie sehr er geschätzt wird, zeigt sich beispielsweise bei Familienstreitigkeiten: Die Menschen wenden sich eher an den Rinpoche um Vermittlung als an das von China eingerichtete Justizsystem.

Simon:

Mußte der Rinpoche nicht in Anbetracht seiner Beziehungen zu den Behörden mit einer Inhaftierung rechnen?

Geshe:

Es war dem Rinpoche deutlich bewußt, daß es nur eine Frage der Zeit sei, bis er verhaftet würde, aber er bestand darauf, in Tibet zu bleiben und sagte: "Ich könnte fliehen und in ein anderes Land gehen, aber mein Karma steht in enger Verbindung mit den Menschen in Tibet und ich habe nichts Unrechtes getan. Deshalb sehe ich keinen Grund, mein Volk zu verlassen und in die Freiheit zu flüchten." Der Rinpoche bestand also trotz der Tatsache, daß ihm die Verhaftung drohte, darauf, in Tibet zu bleiben. Er war davon überzeugt, daß die von ihm aufgebauten Schulen, Klöster und Krankenstationen dem Wohl der einfachen Menschen in Tibet dienten. "Wenn die chinesische Regierung der Ansicht ist, daß (meine Arbeit) ein Verbrechen ist, dann bin ich hilflos - aber ich habe nichts getan, um die Menschen aufzuwiegeln. Daher habe ich auch eigentlich keinen Grund anzunehmen, daß mich die Regierung verhaften lassen will. Außerdem habe ich geschworen, in Tibet zu bleiben und den Menschen zu helfen und ich werde mein Gelübde halten."

Paul:

Weshalb hat Ihrer Ansicht nach China ausgerechnet den Rinpoche zum Tode verurteilt?

Geshe:

Das Kernstück der chinesischen Tibetpolitik ist die Beseitigung jeglicher Unterstützung für den Dalai Lama und seines Einflusses im Land. Der Rinpoche ist jemand, der den Dalai Lama von ganzem Herzen unterstützt; hinzu kommt, daß Zehntausende von Menschen ihm folgen, und das reichte aus, um bei der Regierung den Verdacht zu erwecken, er schüre bei den Leuten antichinesische, nationaltibetische Gefühle.

Simon:

Wie hat sich das Todesurteil gegen ihn auf die Menschen vor Ort ausgewirkt?

Geshe:

Sehr negativ. Die von ihm aufgebaute Schule wurde geschlossen, ebenso wie das Waisenhaus, das Altenheim und vier der neun von ihm errichteten Klöster. Die verbliebenen Klöster haben unter sehr schwierigen Bedingungen zu leiden. Es kam zu einem beträchtlichen Anstieg des Alkoholismus, der Gewalttätigkeit und der Streitigkeiten in der Bevölkerung.

Sollte der Rinpoche hingerichtet werden, wird dies die Probleme, die sich nach seiner Verhaftung ergeben haben, weiter verschlimmern, und das wäre sehr schlecht für die Menschen dieser Gegend. Auch wenn der Rinpoche nicht hingerichtet wird, aber nicht zurückkehren und seine Aktivitäten fortsetzen darf, leiden die Menschen unter den Auswirkungen. Auf jeden Fall würde es einiges an Unmut und Ressentiments gegenüber den chinesischen Behörden aktivieren, denn die Verhaftung des Rinpoche hat zu einer nicht unerheblichen Menge an Wut und Verbitterung in der Bevölkerung geführt. Sollte er hingerichtet werden, so wird die angestaute Wut noch mehr anwachsen, während eine Umwandlung der Todesstrafe sie vielleicht abnehmen ließe, zumindest aber ein weiteres Anwachsen dieses Reservoirs an Wut verhindern würde.

Paul:

Was meinen Sie, wie der Rinpoche derzeit mit seiner Lage zurechtkommt?

Geshe:

Der Rinpoche ist Mönch und praktizierender Buddhist, deshalb ist er stark und tapfer genug, um innerlich jede Herausforderung und Widrigkeit zu überstehen. Aber ich kann nichts über sein körperliches Wohlbefinden sagen oder darüber, wie die chinesischen Behörden ihn behandeln.

Simon:

Können Sie die Einstellung des Rinpoche zur Umwelt zusammenfassen und sagen, ob diese auf seine Kindheit als Nomade zurückzuführen ist?

Geshe:

Seine Kindheit als Nomade hat nicht viel mit seiner Einstellung der Umwelt gegenüber zu tun, denn diese kristallisierte sich erst später in seinem Leben heraus. Seine Kindheit unter einem kommunistischen System und während der Kulturrevolution war gezeichnet von harter Arbeit, und er hatte kaum Gelegenheit, Bildung zu erlangen. Sein Interesse an Umweltfragen entwickelte sich erst, als er nach Indien ging und hörte, was Seine Heiligkeit der Dalai Lama über die Bedeutung des Schutzes und Erhalts der Umwelt sagte. Als er 1987 nach Tibet zurückkehrte, begann er mit der Umsetzung der ökologischen Ideen, die er sich in Indien angeeignet hatte.

Simon:

Der Rinpoche interessierte sich insbesondere für den Abbau der natürlichen Ressourcen und die Jagd. Können Sie uns sagen, was genau abgebaut wurde, ob einzelne Tierarten übermäßig bejagt wurden und ob das nur von Chinesen betrieben wurde, oder ob auch Tibeter daran beteiligt waren?

Geshe:

Der Rinpoche strebte die Einstellung des Abbaus von Bodenschätzen in bestimmten Gegenden und den Schutz der Wildtiere an. Es wurde vor allem Gold abgebaut - ohne Rücksicht darauf, daß die Berge im traditionellen Glauben der Tibeter von Geistern und Gottheiten bewohnt sind. Sie haben auch Erze abgebaut, die für die Produktion von Stahl oder Eisen benötigt werden. Der intensive Bergbau verursachte Überschwemmungen und die Zerstörung von Weideland. Im Sommer, wenn Monsun ist, gab es massive Probleme mit Überschwemmungen, und das Vieh und die Wildtiere litten unter mysteriösen Krankheiten.

Sowohl Chinesen wie auch Tibeter wilderten in großem Umfang Moschushirsche und eine besondere Art der tibetischen Antilope mit weißem Fell und blauem Schwanz. Die Wilderer benutzten Metallfallen, in denen die Tiere sich verfangen, wenn sie hineinlaufen. Auch viele andere Wildtiere wurden gejagt. Der Rinpoche schickte eine Menge Leute in die Berge, um die Wilderer an der Jagd zu hindern und gab den Jägern statt dessen Nutztiere, damit sie ihr Unwesen einstellten.

Die wahllose Abholzung ist ein anderes Thema. Die Chinesen haben die Wälder in Staatsforste und Volkswälder eingeteilt. Als die Staatsforste völlig vernichtet waren, begannen sie damit, Bäume in den Volkswäldern abzuholzen. Der Rinpoche versuchte den Behörden klarzumachen, daß die Zerstörung der uralten Wälder katastrophale Folgen haben würde. Tatsächlich konnte er die Zerstörung mehrerer Wälder abwenden.

Paul:

Über welchen Zeitraum gab der Rinpoche den Wilderern Nutztiere?

Geshe:

Von 1987 bis zu seiner Verhaftung im Jahr 2002.

Simon:

Wie wurde die Aufteilung der Wälder geregelt und gab es dabei Korruption?

Geshe:

Seit 1982 wurden Bäume abgeholzt, aber die Aufteilung der Wälder in Staatsforste und Volkswälder erfolgte erst 1987. Die Einteilung und Kategorisierung wurde 1986 vorgenommen, was man daran sehen konnte, daß Zahlen und das Alter der Bäume auf die Stämme geschrieben wurden. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob und inwieweit es damals Korruption gab, aber gewiß war sie mit im Spiel, als nach der Erschöpfung, der totalen Zerstörung der Staatsforste auf die Volkswälder übergegriffen und dort Holz geschlagen wurde. Das lag hauptsächlich an der Korruption, denn die örtlichen Kader haben mit Sicherheit Bestechungsgelder von den privaten Holzfirmen angenommen.

Simon:

Fand auch Abholzung von privater Seite statt oder ging alles von der Regierung aus?

Geshe:

Ich weiß, daß es zu Korruptionsfällen kam, an denen sowohl Privatleute als auch Unternehmen beteiligt waren. Einige Regierungskader fällten Bäume und transportierten sie in privaten Lastwagen ab, vermutlich um sie für immense Summen an private Unternehmen zu verkaufen.

Der Rinpoche konnte tatsächlich den exzessiven Raubbau an den Volkswäldern bremsen, allerdings gibt es ein Gesetz, demzufolge eine Familie zwei bis drei Bäume pro Jahr für private Zwecke fällen darf. Die Bäume, die in den Staatsforsten gefällt wurden, wurden jedoch auf den Flüssen nach China geflößt. Der Rinpoche fotografierte die gefällten Stämme und die verfaulenden Baumstümpfe und sonstigen Überreste, um der Regierung vor Augen zu führen, was für eine Umweltkatastrophe im Gange war.

In Bezug auf den Umwelt- und Wildtierschutz steht der Rinpoche einzigartig in der Geschichte Tibets da. Bei seinen Bemühungen für den Schutz der Wildtiere und Wälder unserer Gegend stellte er sich mutig gegen die Regierung. Meines Wissens ging noch kein Tibeter so weit wie er. Der Rinpoche sagte einmal: "Wenn es darum geht, den Bedürfnissen der Menschen zu dienen oder für den Schutz der hiesigen Umwelt zu sorgen, bin ich bereit, sogar mein Leben dafür zu geben." Ich glaube nicht, daß es in ganz China sonst noch jemand gibt, der tat, was der Rinpoche getan hat.

Paul:

Haben Sie eine abschließende Botschaft für die Freunde von Free Tibet Campaign (FTC)?

Geshe:

Es ist sehr wichtig, daß die einzelnen Leute nicht nur ihren Teil tun, etwa an ihre Regierung zu schreiben, sondern daß sie FTC auch finanziell sowie durch ehrenamtliche Hilfeleistungen, etwa im Verwaltungsbereich, unterstützen. Des weiteren rufe ich alle Freunde Tibets dazu auf, dem Dalai Lama bei seinen Anstrengungen zur Lösung des chinesisch-tibetischen Konflikts ihre größtmögliche Unterstützung zuteil werden zu lassen, denn er hat einen äußerst vernünftigen Ansatz erarbeitet, der nicht nur den Interessen der Tibeter dient, sondern beiden Seiten Vorteile bieten wird. Meiner Ansicht nach ist das eine sehr kluge Vorgehensweise, die von jedem Menschen auf der Welt unterstützt werden sollte. Wenn ich sage, daß man den vom Dalai Lama befürworteten Ansatz des mittleren Weges unterstützen soll, heißt das natürlich nicht, daß die Kampagnen für den Rinpoche eingestellt werden und man zu einem anderen Thema übergehen sollte. Ich finde, man sollte unbedingt zu Ende führen, was man begonnen hat.

Paul: Herzlichen Dank, Geshe!