Mai 2000

FREE TIBET CAMPAIGN
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MEIN LEBEN UNTER CHINESISCHER BESATZUNG

Ansprache von Kunchok Tendar Dochoy an die 3. Internationale Konferenz der Tibet-Unterstützungsgruppen in Berlin im Mai 2000

Mein Name ist Kunchok Tendar Dochoy. Ich wurde 1939 in der Provinz Kham, Region Dragyab, geboren. Als mir klar wurde, daß die chinesischen Besatzer Tibets mich wegen meiner politischen Betätigung bald wieder verhaften würden, floh ich im April 1998 nach Indien. Ich begab mich auf den Weg ins Exil in der Hoffnung, daß ich der internationalen Gemeinschaft die Geschichte des tibetischen Volkes aus Tränen und Blut erzählen könnte. Ich danke Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit geben, diesen Wunsch zu erfüllen.

Also hier ist die Geschichte meines Lebens: Im Alter von 21 Jahren schloß ich mich der Widerstandsbewegung des ganzen tibetischen Volkes gegen die chinesische Besatzungsmacht an. Von 1958 bis 1961 schlug ich Schlachten gegen die Volksbefreiungsarmee der Chinesen. All diese Kämpfe fanden in meiner Heimatregion Dragyab statt. Unsere Armee und Freiwilligenscharen waren schlecht ausgerüstet; ein Kämpfer besaß höchstens 200 Kugeln. Einige hatten nur 5 oder 6 Kugeln. Unsere Waffen beschränkten sich zumeist auf Luntenschlösser und breite Schwerter, welche wir mit Waffen ergänzten, die wir von chinesischen Soldaten ergattert hatten.

In unserer Widerstandsgruppe hatte ich den militärischen Rang eines gyapon und mir unterstanden 155 Mann. Im ganzen verlor unsere Gruppe etwa 30 Mann, darunter auch mein Bruder Sonam Tabgye, ein Teenager. Eine Menge anderer Kämpfer wurde verwundet oder gefangengenommen. Unter den Gefangenen war auch Tashi Mangyal, ein Offizier im Rang eines shelngo. Die feindlichen Soldaten versuchten ihn zu Fuß von Jamdhun zum Gefängnis Dragyab zu treiben. Als er vor Schwäche nicht mehr laufen konnte, schlugen sie ihn, bis er zusammenbrach, und begruben ihn dann lebendig. Ich wurde 1961 gefangengenommen und 5 Tage lang "Kampfsitzungen" unterzogen, während derer sie mich wie die Wilden folterten. Am 1. Dezember 1961 schlossen sie mich in das Dragyab Gefängnis ein, wo ich einmal am Tag ein wenig zu essen bekam und zweimal zur Toilette hinausgeführt wurde. Die Gefangenen von 1959 wurden ohne Verbindung zur Außenwelt festgehalten, weshalb sie keine Ahnung hatten, ob ihre Nächsten und Verwandten noch lebten oder nicht. Später wurde den Gefangenen gesagt, sie könnten an ihre Angehörigen schreiben, aber es wurde ihnen kein Schreibpapier geliefert. So mußten sie auf Stoffetzen schreiben, die sie von ihren Hemden abrissen. Und zum Schreiben nahmen sie Besenzweigchen und als Tinte Blut aus ihrem Zahnfleisch. Ich wurde viele Male gefoltert, und meine Hände und Füße waren immer in Fesseln. Manchmal wurde ich nackt ausgezogen, mit nassen Juteseilen gebunden und in der "Flieger" Position frei schwebend aufgehängt. Die Schmerzen waren so gräßlich, daß ich oft dabei das Bewußtsein verlor. Wenn das passierte, nahmen sie mich herunter und spritzten mir kaltes Wasser ins Gesicht. Sobald ich wieder zu mir kam, zogen sie mich wieder hinauf.

Alle Gefangenen wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt. Anfänglich mußten wir halb-angetrocknete Fäkalien aus der Gefängnistoilette herausgraben und mit bloßen Händen zerreiben. Und dann mußten wir eine oder zwei Handvoll dieser pulverisierten Fäkalien an die Wurzeln der Gemüsepflanzen streuen. Aber die Küche gab uns nicht genügend Wasser, damit wir uns vor dem Essen die Hände hätten waschen können. Außerdem gab es absolut keine Seife oder Waschmittel. Und das bedeutete, daß wir unsere tsampa (Gerstenmehl) mit stinkenden Händen kneten mußten.

1962 wurde ich zu lebenslänglich verurteilt und in das Gefängnis von Chamdo verfrachtet. In der Anfangszeit entnahmen sie mir dort zweimal eine große Menge Blut, worauf mir sehr schwindelig und schwach wurde. 1966 wurden dann alle auf Lebenszeit verurteilten Häftlinge in das Gefängnis No. 2 der Autonomen Region Tibet nach Powo Tramo verlegt. Für die Fahrt dorthin wurden die Gefangenen je zu zweit aneinandergefesselt. Mehrere Jahre lang bestand unsere Kost dreimal täglich aus einer kleinen Menge tsampa und heißem Wasser ohne Salz. Aber unsere Mägen wurden nicht einmal halb voll davon.

Eines Tages wurden wir zur Arbeit in den Schweinestall der Armee gebracht. Dort konsumierten wir die Speisereste der Soldaten, die für die Schweine gedacht waren. Wir fischten auch Schnippel aus dem Becken der Armee-Spülküche heraus. Das waren wahre Genüsse für uns! Ein Häftling, Bhu Yeshe, wurde erbarmungslos geschlagen, als die Soldaten ihn erwischten, wie er Schweinefutter klaute. Viele Gefangene starben vor Hunger oder Erschöpfung. Später sickerte die Nachricht durch, daß die Todesrate in anderen Gefängnissen ebenso hoch war. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ich hörte, daß in dem Gefängnis Tsawa Pomdha 1.600 von der gesamten Gefangenenzahl von 1.800 umkamen.

Die qualvollste Affäre war das regelmäßige politische Meeting abends, bei dem sie von den Gefangenen forderten, den Dalai Lama und den Buddhismus zu beschimpfen. Abgesehen davon mußten wir Kritik an uns selbst und unseren Kameraden üben. Wir mußten auch die rote Mao-Bibel auswendig aufsagen. Der geringste Fehler bei diesen Meetings bedeutete Erschießung durch das Exekutivkommando, Gefesseltwerden oder andere Arten der Folterung. Viele Gefangene wurden zum Selbstmord getrieben, weil sie in diesen Meetings Fehler gemacht hatten. An einem Tag wurden 14 Gefangene, darunter auch Derge Benchen Akar, Berin Lochin Dadrag und Bari Dingpon Sichoy, hingerichtet. Früher, als wir noch im Chamdo Gefängnis waren, wurden wir gezwungen, die Hinrichtung von acht Häftlingen, darunter Tadho und Solu Jampa Tsultrim, mit anzusehen. Bei vier der zum Tode Verurteilten mußten ihre Väter und Verwandten zuschauen. Alle Verurteilten waren vor dem Exekutivkommando niedergeschlagen und völlig wehrlos. Weil ihnen die Kehlen zugebunden waren, konnten sie nicht einmal einen letzten Aufschrei tun. Ich erinnere mich an einen Bön Lama namens Latri Gyalwa Yungdrung. Er war ein Aussätziger, weshalb seine Kehle bei der Hinrichtung nicht so fest gebunden wurde. So konnte er noch einmal laut rufen: "Lang lebe der Buddha Tenzin Gyatso, Tod der Kommunistischen Partei!"

Am 10. März 1979 wurde ich als Teil einer neuen Politik, der zufolge allen noch übrigen politischen Gefangenen die Freiheit geschenkt wurde, entlassen. Ich war 19 Jahre inhaftiert gewesen, wozu ein Jahr in einer Arbeitseinheit kommt. Die ungeheure physische und mentale Agonie, die ich in diesen Jahren erlitten hatte, machten mich für den Rest meines Lebens schwach und gebrechlich. Meine Rückkehr nach Hause war ein tränenreiches Ereignis. Mein Heim war im Zustand entsetzlicher Verarmung. Meine Mutter war an Hunger und den Folgen der Folterung gestorben. Meine Schwester erkannte mich kaum wieder.

Um nun über die Situation Tibets im allgemein zu sprechen: Im Laufe der letzten 5 Jahrzehnte erlitt unsere einst unabhängige Nation immer mehr Brutalitäten unter der chinesischen Besatzung. In den letzten Jahren ließen die Chinesen eine neue Kampagne der Unterdrückung vom Stapel. Den Menschen wird befohlen, den Dalai Lama in einem solchen Maße zu verunglimpfen, daß sie statt vom "Dalai Lama" vom "Dalai-Separatist" von ihm reden müssen. Und keiner darf den von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama anerkannten Panchen Lama verehren. Statt dessen wird den Tibetern befohlen, den von der chinesischen Regierung ausgesuchten Knaben zu respektieren. Die Leute werden angehalten, Religion als ein Gift und den tibetischen Buddhismus als blinden Glauben zu verachten. Von den etwa 160 Mönchen von Kloster Zogang Themtho in Chamdo wurden 30 hinausgeworfen, weil sie sich weigerten, auf Seine Heiligkeit zu schimpfen.

Tibeter in Tibet haben absolut keine Menschenrechte. Wenn man nur ein Wort über den Mangel an Menschenrechten äußert oder Plakate aufhängt, wird man gleich verhaftet, eingesperrt oder gar hingerichtet. Vor ein paar Jahren wurden sogar Jugendliche wie Gyatso (13), Yeshi Tenzin (13), Dawa Dorjee (13) und Ngawang Choephel (15) zu Haftstrafen von 5 bis 7 Jahren verurteilt.

Kein Ehepaar darf mehr als 2 Kinder haben. In der Ortschaft Jamdhun von Dragyab wurden im Jahr 1996 210 Frauen zwangssterilisiert. Sharab Lhandron, die Tochter der Familie Nyogla und Dachey, die Braut der Familie Gyangdrak, die schwanger waren, mußten zwangsabtreiben.

Die Chinesen schauen auf die Tibeter herab. Sogar tibetische Nationalkleidung wird verächtlich betrachtet. Bei einigen Büros in städtischen Siedlungen stehen Wachposten an den Toren. Leute, die chinesisch gekleidet sind, lassen sie ungehindert passieren, aber wenn jemand in tibetischer Tracht daherkommt, muß er seinen Personalausweis zeigen, ehe er hineingelassen wird. Die Zahl der chinesischen Siedler nimmt mit jedem Tag zu. Sie schlagen die Bäume und kaufen das Ackerland der Tibeter auf. Sie monopolisieren die Entwicklungsprojekte, die Restaurants und die Geschäfte in Tibet. Mit dem aktiven und stillschweigenden Einverständnis der Behörden öffneten diese Neusiedler eine riesige Anzahl von Bierschenken, Spielhöllen und Bordellen, die sich alle verderblich auf das Leben der jungen Tibeter auswirken. Ein anderes Übel ist, daß der Zustrom chinesischer Siedler die Tibeter zu einer Minderheit in ihrem eigenen Lande macht.

Die tibetische Sprache wird herablassend als "Privatsprache" bezeichnet und mit Verachtung behandelt, während Chinesisch als die "öffentliche Sprache" angesehen wird. Tibetisch gilt nur noch als die Sprache der Lamas, die für nichts anderes taugt, als buddhistische Schriften zu lesen. Ab 1996 wurden tibetische Lehrbücher so einschneidend verändert, daß das Studium von tibetischer Sprache und Literatur nur noch dem Namen nach existiert. Um Prüfungen zu bestehen oder eine Arbeit im staatlichen Bereich zu bekommen, muß man nur gut Chinesisch können. Solange der Panchen Lama noch lebte, machten die Behörden einige Anstrengungen, um den Unterricht und die Verwendung von Tibetisch wiederzubeleben. Aber all diese Initiativen wurden 1989 nach dem Tod des X. Panchen Lama durch Vergiftung wieder fallen gelassen.

Dies ist also meine kurze Darstellung. Ich bitte die internationale Gemeinschaft, eine Erkundungsdelegation nach Tibet zu schicken, um die Wahrheit meines Zeugnisses zu bekräftigen. Ich möchte meine Aussage mit einem Appell beenden. Ich glaube, daß nur vollständige Unabhängigkeit die Aspirationen des tibetischen Volkes befriedigen kann. Dies sage ich, weil es seitens der chinesischen Regierung auf die aufrichtigen Bemühungen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama seit 20 Jahren zu einer friedlichen Lösung des Tibet Problems durch Verhandlungen zu gelangen, keinerlei positive Reaktion gab. Ich ersuche daher demütig die internationale Gemeinschaft, sie möge die Sache der Unabhängigkeit Tibets unterstützen.

Ich danke Ihnen! Kunchok Tendar Dochoy

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