23. Mai 2021
Central Tibetan Administration (CTA), www.tibet.net

Chinas Weissbuch: 70 Jahre Unterdrückung in Tibet seit dem 17-Punkte-Abkommen

von T. G. Arya*

China hat am 21. Mai ein weiteres Weißbuch über Tibet herausgegeben mit dem Titel „Tibet seit 1951: Befreiung, Entwicklung und Wohlstand“. Darin heißt es: „Anläßlich des 70. Jahrestages der friedlichen Befreiung Tibets veröffentlichen wir dieses Weißbuch, um auf Tibets Geschichte und Errungenschaften zurückzublicken und ein wahres und umfassendes Bild des neuen sozialistischen Tibets zu präsentieren.“

Ankündigung des chinesischen Weißbuches
in Gobal Times

In dem Weißbuch wird behauptet, Tibet sei seit der Antike ein Teil Chinas und durch die Unterzeichnung des 17-Punkte-Abkommens von ausländischem Imperialismus und von der feudalen theokratischen Leibeigenschaft befreit worden. In all diesen 70 Jahren habe sich Tibet regionaler Autonomie, eines demokratischen Staatswesens und der Entwicklung und religiöser und kultureller Freiheit erfreut. Es handelt sich hier um eine weitere unverfrorene chinesische Propagandalüge, um die internationale Gemeinschaft in die Irre zu führen und die historische Realität zu verzerren.

Der 23. Mai 2021 steht für den 70. Jahrestag des umstrittenen 17-Punkte-Abkommens zwischen Tibet und China. Es war zu erwarten, daß China dieses Dokument wieder einmal ausgraben würde, um mit der Vereinigung Tibets mit dem Mutterland zu prahlen. Aber dieses Mal kamen sie mit einem Weißbuch über das Abkommen daher. Derartige Behauptungen Chinas sind nichts Neues. In der Veröffentlichung des Department of Information and International Relations (DIIR) der Central Tibetan Administration „Tibet war nie ein Teil Chinas, aber der Ansatz des Mittleren Weges bleibt eine praktikable Lösung“ (1) wurden sie ausführlich widerlegt.

Chinas neuestes Weißbuch beruft sich auf das 17-Punkte-Abkommen, um seine Besetzung Tibets zu rechtfertigen. Sehen wir uns also das Abkommen noch einmal an, um festzustellen, ob Chinas Ansprüche gerechtfertigt sind oder nicht. Wir ersuchen die KPCh-Führung, im Hinblick auf eine Lösung der Tibet-Frage dieses erzwungene Abkommen näher zu betrachten, anstatt es als Sieg zu feiern.

Das 17-Punkte-Abkommen ist ein sehr wichtiges, rechtskräftiges historisches Dokument, das die wahre Natur der sino-tibetischen Beziehungen an diesem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte der tibetischen Unabhängigkeit offenlegt. Obwohl es vom kommunistischen China der tibetischen Regierung aufgezwungen wurde, ist es ein wichtiges Zeugnis für die Tatsache, daß Tibet vor dem Abkommen niemals ein Teil Chinas war.

17-Punkte-Abkommen

Aus historischer Sicht ist es sehr wichtig, hier festzustellen, daß Tibet in seiner Geschichte vor 1949 nie ein Teil Chinas gewesen ist. Die mongolische, nepalesische, chinesische und britische Armee kamen zwar nach Tibet und übten zu einer bestimmten Zeit der tibetischen Geschichte Oberhoheit über Tibet aus. Aber sie kamen als militärische Einheiten, als Invasoren oder auf Ersuchen der tibetischen Regierung, und sie zogen wieder ab, nachdem ihre Missionen erfüllt waren. China kann Tibet nicht aufgrund dieser historischen Auseinandersetzungen für sich beanspruchen. Schließlich könnten andere dasselbe tun; in diesem Sinne könnte Tibet gar China als einen Teil von Tibet beanspruchen (2). Diese historischen militärischen Vorfälle sind ganz natürlich und gehören zur politischen Geschichte fast aller Nationen der Welt.

Das kommunistische China hat Tibet aus verschiedenen unhaltbaren Gründen als einen Teil Chinas zu beanspruchen versucht. Aber wie das meiste der wohldurchdachten Propaganda der Chinesen, änderte sich die Art ihrer Ansprüche ständig. Zuerst behaupteten sie, Tibet sei seit der Herrschaft des tibetischen Kaisers Srongtsan Gampo [tib: Srong btsan sgampo] im 7. Jahrhundert ein Teil Chinas, als die Tang-Prinzessin Wencheng Kungchu eine der Königinnen von Tibet wurde. Später behaupteten sie in ihrem Weißbuch von 1992, daß sie Tibet im 14. Jahrhundert von der mongolischen Yuan-Dynastie und später von den Ming- und Qing-Dynastien geerbt hätten. Aber diese erdichteten und abwegigen Behauptungen, die nur die Geschichte zu verzerren suchen, wurden sogar von einigen chinesischen Gelehrten widerlegt.

Tatsache ist, daß China selbst nach 70 Jahren der Besetzung Tibets nicht in der Lage ist, die Tibeter vollständig zu gewinnen oder zu besiegen. Nachdem alle historischen Behauptungen und Propagandalügen versagt haben, um die Besetzung Tibets zu rechtfertigen, bezieht sich China nun vor allem auf die „Befreiung Tibets von der feudalen Leibeigenschaft“ und darauf, daß es Entwicklung in die Region bringt. Viele glauben, daß das 17-Punkte-Abkommen mit China das Ende der tibetischen Unabhängigkeit darstellte.

In Wirklichkeit ist das 17-Punkte-Abkommen jedoch ein wichtiges Dokument, das beweist, daß Tibet eine unabhängige Nation war. Das Abkommen ist auch ein Zeugnis dafür, daß China der Formel „ein Land, zwei Systeme“ im Hinblick auf Tibet zugestimmt hat. Die Art und das Ergebnis des Abkommens offenbaren auch die wahre imperialistische Färbung des chinesischen Kommunismus. Obwohl das Abkommen unter Zwang unterzeichnet wurde, taten Seine Heiligkeit der Dalai Lama und die tibetische Regierung ihr Bestes, um der chinesischen Forderung entgegenzukommen. Als China davon überzeugt war, das Land vollständig unter die Kontrolle seiner Volksbefreiungsarmee (PLA) gebracht zu haben, begann es, das Abkommen zu verletzen. So funktioniert China unter dem kommunistischen Regime. Hongkong und Taiwan sollten aus dieser tibetischen Erfahrung lernen und sich vor chinesischen Avancen in Acht nehmen.

China hat den Tibetern den Inhalt des 17-Punkte-Abkommens zuerst vorgeschlagen und später aufgezwungen. Die Tibeter lehnten das Abkommen zunächst ab und versuchten später, sich anzupassen, aber als China das Abkommen, das es sich selbst auferlegt hatte, verletzte, revoltierten die Tibeter und lehnten es erneut ab. Doch China feiert es; darin liegt die Ironie des Abkommens!

Um die chinesisch-tibetische Frage zu lösen, haben Seine Heiligkeit der Dalai Lama und die tibetische Exilverwaltung verschiedene Lösungen angeboten: den Fünf-Punkte-Friedensplan von 1987, den Straßburger Vorschlag von 1988 und das Memorandum über echte Autonomie von 2008 (3). Diese drei Vorschläge können als der „Drei-Kern-Ansatz“ der Tibeter zur Lösung der Tibet-Frage angesehen werden. Sie teilen viele gemeinsame Elemente mit dem 17-Punkte-Abkommen, der Erklärung von Premier Deng Xiaoping und der chinesischen Verfassung, also dem chinesischen „Drei-Kern-Ansatz“.

Das 17-Punkte-Abkommen gab China, obwohl es unter Zwang unterzeichnet worden war, das dringend benötigte Alibi, um in Tibet einzudringen. Als Seine Heiligkeit der Dalai Lama es im April 1959 in Tezpur in Indien zurückwies, erfuhr die internationale Gemeinschaft die Wahrheit über das Abkommen, und China verlor die Legitimation, Tibet zu besetzen. Aus völkerrechtlicher Sicht ist die Besetzung Tibets durch China also illegal. Als aufstrebende Supermacht und als wichtiges Mitglied der Vereinten Nationen muß China diesen historischen Fehler wiedergutmachen, um moralische und internationale Legitimität für seinen Anspruch auf Tibet zu erlangen. Durch Einschüchterung und brutale Besetzung hat China alle im 17-Punkte-Abkommen genannten Punkte erreicht. Wenn es China mit der Lösung der Tibet-Frage ernst meint, sollte es die Punkte erwägen, die es Tibet zugestehen wollte, aber nie erfüllt hat und das sind:

Der 3. Punkt des Abkommens: „Das tibetische Volk hat das Recht, die nationale regionale Autonomie unter der vereinten Führung der zentralen Volksregierung auszuüben.“

Der 4. Punkt: „Die Zentralbehörden werden das bestehende politische System in Tibet nicht verändern. Sie werden auch den etablierten Status, die Funktionen und Befugnisse des Dalai Lama nicht verändern. Beamte verschiedener Ränge werden ihr Amt wie gewohnt ausüben.“

Der 7. Punkt: „Die religiösen Überzeugungen, Sitten und Gebräuche des tibetischen Volkes sind zu respektieren und die Lamaklöster sind zu schützen.“

Der 11. Punkt: „Die lokale Regierung Tibets soll Reformen aus eigener Initiative durchführen, und vom Volk erhobene Forderungen nach Reformen sollen in Absprache mit den führenden Personen Tibets geregelt werden.“

Tibetischer Text
Siegel und Unterschriften

Diese vier Punkte, die China Tibet zugesichert hat, sind immer noch nicht erfüllt, vielmehr hat China ihnen zuwider gehandelt.

Das „Memorandum über echte Autonomie für das tibetische Volk“, das der chinesischen Führung 2008 vorgelegt wurde, sollte in diesem Zusammenhang erforscht werden, etwa ob und inwieweit das Memorandum von den drei chinesischen Kernansätzen abgewichen ist. Was noch wichtiger ist, es sollte geprüft werden, ob das Memorandum im Rahmen der chinesischen Verfassung liegt oder nicht, und falls dem nicht so ist, inwieweit es davon abgewichen ist. Dies sind die gemeinsamen Grundlagen, auf denen Tibet und China diskutieren und verhandeln müssen, um zu einer für beide Seiten akzeptablen Übereinkunft zu kommen.

Sehr zum Verdruß des kommunistischen Chinas ist das 17-Punkte-Abkommen von 1951 immer noch ein wichtiges Dokument zum Beweis dafür, daß Tibet vor der chinesischen Invasion eine unabhängige Nation war. Da die Tibeter heutzutage jedoch keine Trennung von China mehr anstreben, kann das Dokument eine entscheidende Rolle zur Findung einer gemeinsamen Lösung spielen, basierend auf dem Ansatz des Mittleren Weges Seiner Heiligkeit des Dalai Lama und der tibetischen Exilverwaltung. Die drei Kernansätze Tibets und Chinas könnten den Rahmen einer möglichen Einigung bilden, in der die Lösung der Tibetfrage gefunden werden könnte. Ein starker Wille und ein aufrichtiges Bemühen der chinesischen Führung, über ein mögliches Feld für die Annäherung nachzudenken, wäre für beide Seiten vorteilhafter, als auf dem unmoralischen Sieg herumzureiten, den sie durch das 17-Punkte-Abkommen errungen hat.

Der 23. Mai sollte für die chinesische Führung ein Tag sein, an dem sie zurückblickt und sieht, was sie den Tibetern versprochen hat und was sie wirklich geliefert hat, und wie sie immer noch dazu beitragen könnte, eine gemeinsame Basis für die Lösung der Tibetfrage zu finden. Daher sollte die chinesische Führung, anstatt falsche Behauptungen aufzustellen, ihr Verhalten ernsthaft prüfen und erwägen, ob sie die Versprechen, die sie den Tibetern gegeben hat, wirklich einhielt. 

Im internationalen Kontext ist dieses Abkommen ein lebendiges Zeugnis dafür, wie China mit den abgegebenen Versprechen umgeht. Es zeigt auch, wie das Schweigen der internationalen Gemeinschaft zur Verletzung des Abkommens die KPCh-Führung ermutigt hat, die von ihr getroffenen Vereinbarungen weiterhin zu verletzen.

Bei einer kürzlich vom Genfer Tibet-Büro organisierten Podiumsdiskussion über das „17-Punkte-Abkommen und 70 Jahre Unterdrückung in Tibet“ mit hochrangigen internationalen Diskussionsteilnehmern wurde dieses Thema weiter ausgeführt (4). 

Im Jahr 1954 unterzeichnete China das Panchsheel-Abkommen mit Indien, in dem friedliche Koexistenz und der Nichtangriff des Territoriums des jeweils anderen vereinbart wurde, doch 1962 griff China Indien an. Erst vor kurzem, im Jahr 2017, drang China bei dem Doklam-Zwischenfall in die Territorien Indiens und Bhutans vor. Letztes Jahr beging China einen illegalen Überfall auf die indischen Territorien von Ladakh.

China und die britische Regierung hatten 1984 eine Gemeinsame Erklärung herausgegeben, in der für Hongkong nach der Übernahme 1997 ein hohes Maß an Autonomie vereinbart wurde. In Paragraph 3 der Gemeinsamen Erklärung sind die Privilegien, die Hongkong haben sollte, detailliert aufgeführt. Aber wir haben alle im letzten Jahr gesehen, was in Hongkong passiert ist, und wie ist die Situation jetzt ist.

Das ist genau das, was in Tibet vor 70 Jahren passiert ist. Es war nicht Befreiung, Entwicklung und Wohlstand, wie China behauptet; es waren 70 lange Jahre der Unterdrückung, Entbehrung und Diskriminierung. Wenn China es mit seinen Behauptungen im Weißbuch ernst meint, sollte es eine UN-Mission, Diplomaten und Medien nach Tibet einreisen lassen, um die Situation vor Ort zu begutachten.

Das Tibet von gestern ist das Hongkong von heute. Wenn wir die Dinge in Tibet und Hongkong so weiterlaufen lassen wie bis jetzt, werden es bald Taiwan, die Spratly-Insel im Südchinesischen Meer, die Senkaku-Insel und so weiter sein!

*Dr. Tsewang Gyalpo Arya ist Repräsentant des Verbindungsbüros Seiner Heiligkeit des Dalai Lama für Japan und Ostasien. Er war früher Informationssekretär des DIIR und Direktor des Tibet Policy Institute, Dharamsala.

(1) Tibet was never a part of China but Middle Way Approach remains a viable solution, https://tibet.net/tibet-was-never-part-of-china/

(2) Im Jahr 763 n. Chr. eroberte die tibetische Armee von König Trisrong Deutsan die chinesische Hauptstadt Ch'ang-an, der chinesische Kaiser floh mit seiner Familie und einem großen Gefolge. Tsepon Shakabpa, Tibet – A political history

(3) Memorandum über echte Autonomie für das tibetische Volk,
http://www.igfm-muenchen.de/tibet/diir/2008/Memorandum_16.11.html

(4) “70 years of Oppression in Tibet: Tibet and Hong Kong evince China’s violation of international law with impunity”, https://tibet.net/70-years-of-oppression-in-tibet-tibet-and-hong-kong-evince-chinas-violation-of-international-law-with-impunity/