25. Juli 2008

Department of Information & International Relations (DIIR)
Central Tibetan Adminstration
Dharamshala - 176215, H.P., India, www.tibet.net


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nicht-offizielle Übersetzung

Interview mit Prof. Samdhong Rinpoche, dem Kalon Tripa oder Premierminister der Tibetischen Regierung-im-Exil

Von Claude Arpi*

Am 10. März 2008 brachen in ganz Tibet Unruhen aus. Während die chinesische Seite behauptet, Han-Chinesen seien von Tibetern angegriffen worden, die ihre Geschäfte und Häuser geplündert hätten, betonte die tibetische Regierung-im-Exil, die spontanen friedlichen Demonstrationen seien der Ausdruck der Verbitterung einer Bevölkerung gewesen, die seit 58 Jahren von China im Stil einer Kolonialmacht unterdrückt wird.

Von Anfang an schlug die chinesische Regierung die Proteste in allen von Tibetern bewohnten Gebieten mit brutaler Gewalt nieder. Vor diesem Hintergrund kam es am 1. und 2. Juli 2008 zur siebten Gesprächsrunde zwischen den Vertretern des Dalai Lama und der chinesischen Regierung. Von dem Treffen erhofften sich viele, Beijing würde im Geiste der olympischen Spiele einige Zugeständnisse an die Tibeter machen. Doch dem war nicht so.

„Ich glaube nicht, daß der Dalai Lama berechtigt ist, Tibet zu repräsentieren. Falls er es überhaupt jemals war, dann vor 1959“, erklärte kürzlich Dong Yunhu, der neue Generaldirektor des Informationsbüros des Staatsrats.

Claude Arpi reiste nach Dharamsala und traf dort Prof. Samdhong Rinpoche, Anhänger Gandhis und Premierminister der tibetischen Exil-Regierung, um ihn über seine Meinung im Hinblick auf die aktuelle Lage in Tibet und den derzeitigen Dialog mit Beijing zu befragen.

C.A: Könnten Sie mir etwas über Ihre Ansichten nach der siebten Gesprächsrunde, die am 1. und 2. Juli zwischen Ihren Vertretern und denen der chinesischen Regierung in Beijing stattfand, sagen?

S.R: Die sechste Gesprächsrunde fand Anfang Juli letzten Jahres statt. Wir baten die Regierung der Volksrepublik China (VRC) um eine siebte Gesprächsrunde im gleichen Jahr. Falls dies nicht möglich sei, schlugen wir als spätesten Zeitpunkt für die siebte Gesprächsrunde Februar 2008 vor. Andernfalls sollten die Gespräche bis Ende 2008 oder sogar bis Anfang 2009 verschoben werden.

C.A: Weshalb?

S.R: Wir hatten den Eindruck, daß es nicht ratsam sei, der chinesischen Regierung im Jahr der Olympischen Spiele zu nahe zu treten. Es war uns klar, daß sie sehr beschäftigt sein würde und daß die Welt andere Erwartungen [gegenüber China] haben würde. So beschlossen wir, uns zurückzuhalten, bis die Spiele vorüber seien. Doch die Dinge entwickelten sich nicht so, wie wir es erwartet hatten. Seit dem 10. März 2008 kam es in Tibet vielerorts zu Protesten. Sie waren nicht auf eine bestimmte Gegend begrenzt, sondern sie betrafen alle von Tibetern bewohnten Gebiete, selbst Beijing, wo einige tibetische Jugendliche studieren. Diese friedlichen Proteste, die überall ausbrachen, wurden mit sehr harter Hand niedergeschlagen. Die Behörden gingen mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vor! Die Reaktion der Welt war überwältigend! So dachte Seine Heiligkeit [der Dalai Lama], es sei nicht angebracht, zu schweigen und daß er jetzt auf die VRC zugehen müsse. Er beschloß daher, einen Brief an Präsident Hu Jintao zu schreiben, in dem er ihn inständig bat, in Tibet keine Gewalt mehr einzusetzen. Er fügte hinzu, daß er, falls er irgendwie dazu beitragen könne, um die Normalität in Tibet wiederherzustellen, bereit sei, dies zu tun.

C.A: Wurde dieser Brief nicht veröffentlicht?

S.R: Nein. Dieser Brief wurde nicht veröffentlicht. Auf diesen Brief hin wurden unsere Vertreter am 4. Mai 2008 zu informellen Gesprächen mit den Vertretern Chinas nach Shenzhen bei Hongkong eingeladen. Im Verlauf dieses Meinungsaustausches wurde beschlossen, die siebte Gesprächsrunde irgendwann im Juni stattfinden zu lassen. Im Juni kam es nicht dazu, doch schließlich wurden die Gespräche am 1. und 2. Juli in Beijing geführt. Sie brachten jedoch keinerlei Resultate. Wir sind darüber sehr enttäuscht. Es war falsch, die siebte Gesprächsrunde so schnell zu führen. Die VRC war zu beschäftigt mit der Erdbebenkatastrophe und der Organisation der Olympischen Spiele. Obwohl eine siebte Gesprächsrunde zustande gekommen war, konnten keine greifbaren Ergebnisse erzielt werden. Dies hinterläßt einen sehr negativen Eindruck sowohl bei den Tibetern in Tibet als auch bei den Menschen, die uns auf der ganzen Welt unterstützen.

C.A: Hat die chinesische Regierung neue Bedingungen gestellt?

S.R: Während der informellen Gespräche im Mai forderten die Chinesen uns zur Unterbindung von drei Dingen auf: der separatistischen Aktivitäten, der Gewalt in Tibet und der Sabotage der Olympischen Spiele. Während der siebten Gesprächsrunde wurden diese drei Dinge, die unterbunden werden sollten, zu vier Punkten erweitert, die nicht gefördert werden dürfen: keine Unterstützung separatistischer Aktivitäten, keine Unterstützung von Gewalt, keine Unterstützung von Sabotage der Olympischen Spiele und keine Unterstützung des Jugendkongresses.

C.A: Bezieht sich dies auf Shenzhen oder Beijing?

S.R: Die drei Dinge, die unterbunden werden sollten, wurden in Shenzhen und die vier Punkte, die nicht unterstützt werden dürfen, in Beijing vorgebracht. Die chinesischen Vertreter erklärten, sie seien sehr liberal, und weil Seine Heiligkeit selbst erklärt hatte, er sei in keine dieser Aktivitäten involviert, würden sie seinen Standpunkt respektieren. Aber nun sollte er seine Nicht-Unterstützung unter Beweis stellen und sich entschieden gegen diejenigen stellen, die solchen Aktivitäten nachgehen. Das bedeutet, daß sie ihren Standpunkt verändert haben. Wir sind nun sehr besorgt, was in Tibet nach den Spielen passieren wird. Was wird sich dort in Wirklichkeit abspielen?

C.A: Haben die chinesischen Behörden in Tibet alle Gefangenen freigelassen? Ich habe gelesen, sie hätten 1000 Menschen freigelassen...

S.R: Vielleicht. Es ist möglich. Die Welt ist machtlos. Nichts kann die VRC daran hindern zu tun, was immer sie tun möchte. Bislang wurde niemand zum Tode verurteilt, obwohl viele Menschen im März umgebracht wurden.

C.A: In verschiedenen Teilen Tibets?

S.R: Ja. Überall. Obwohl bislang keine Todesurteile gesprochen wurden, befinden sich noch Tausende in Haft. Und wenn die Olympischen Spiele vorüber sind, werden die chinesischen Behörden vermutlich mit noch größerer Härte gegen sie vorgehen. Sie werden noch mehr Streitkräfte nach Tibet verlegen und noch mehr Han-Chinesen ansiedeln.

Die Zeit nach den Olympischen Spielen ist deshalb gefährlicher als die augenblickliche Situation. Die chinesische Regierung spricht ständig von Gewalt und Terror auf unserer Seite, was ja völlig unmöglich ist. Und obwohl sie das andauernd wiederholt, wird kein Tibeter zur Gewalt greifen oder terroristische Aktivitäten unterstützen. Kürzlich kursierten im Internet Gerüchte, es habe sich eine tibetische Befreiungsarmee gebildet, die Selbstmordattentäter rekrutiere. Es scheint, daß dies [Gerücht ]von der VRC selbst in Umlauf gesetzt wurde. Wir können nicht glauben, daß Tibeter derartige Dinge tun würden. Wir haben außerdem Informationen erhalten, daß es während der Olympischen Spiele in Dharamsala und anderen Orten, wo Tibeter leben, Störungen geben könnte. Unter unterschiedlichen Vorwänden (wie bspw. dem Shugden-Kult) könnten Sabotageakte und der Zerstörung oder Konflikte in der Lokalbevölkerung ausgelöst werden. Derzeit haben wir richtig Angst.

C.A: Wie hat die indische Regierung auf diese Drohungen reagiert?

S.R: Die indische Regierung ist sehr wachsam. Sie tut, was immer sie kann, um zu verhindern, daß so etwas passiert.

C.A: Glauben Sie, daß es innerhalb der chinesischen Regierung Politiker gibt, die etwas offener sind und erkennen, daß ein Abkommen mit dem Dalai Lama letzten Endes auch für die VRC das beste wäre?

S.R: Es ist uns ziemlich klar, daß ein Riß durch die chinesische Führung geht. Aber zur Zeit sind die Hardliner oben auf und die liberalen Kräfte in die schwächere Position gedrängt worden. Sowohl die Situation in Tibet als auch die Olympischen Spiele haben die Liberalen gezwungen, sich zurückzunehmen, so daß die Hardliner die Oberhand gewinnen konnten. Heute gibt es in China eine gewaltige nationalistische Strömung ... Deshalb kann sich im Moment nichts verändern.

C.A: Der Dalai Lama erwähnte kürzlich (in Ajmer) einen 5-Punkte-Vorschlag, den er von Beijing erhalten habe. Wissen Sie etwas darüber?

S.R: Nein. Ich habe keine Ahnung. Vermutlich meinte er einen alten Vorschlag [ein Memorandum der VRC an den Dalai Lama aus dem Jahr 1981. Dieser 5-Punkte-Plan handelt allerdings lediglich vom Status des Dalai Lama, falls er eines Tages nach China zurückkehren sollte]. Etwas Neues gibt es nicht.

C.A: Sind Sie optimistisch?

S.R: Natürlich sind wir auf längere Sicht gesehen optimistisch. Aber nicht hinsichtlich der nahen Zukunft.

C.A: Ist es nicht ein Wettlauf mit der Zeit, weil die chinesische Regierung immer mehr Migranten in Tibet ansiedelt?

S.R: Ja. Das ist es. Die chinesische Regierung hat die volle Kontrolle über Tibet und kann tun, was immer ihr beliebt. Heutzutage hat niemand auf der Welt die Macht, sie zu stoppen.

* Claude Arpi ist ein in Frankreich geborener Autor und Journalist, der in Auroville, Indien, lebt. Er hat eine eigene Website: http://www.claudearpi.net/. Das Interview erschien zuerst bei Sify Online News, www.sify.com