26. Mai 2008
Department of Information & International Relations - Central Tibetan Administration
Dharamsala - 176215, India
Kontakt: Mr Thubten Samphel, Mr Sonam N Dagpo
Tel.: + 91 1892-222510, 224957, 224662, E-mail: tneditor@gov.tibet.net, http://www.tibet.net

Version in pdf

Die Erwiderung der Tibetischen Zentralverwaltung (CTA) auf die Unterstellungen von Chinas Regierung (Teil 2)

Seit dem Ausbruch der friedlichen Proteste in Tibet am 10. März 2008 macht sich die chinesische Regierung den ungeheuren Einfluß der staatlichen Medien zunutze, um eine ganze Reihe von Behauptungen über die "Dalai Clique" zu verbreiten. Diese reichen von "Inszenierung der jüngsten Proteste in Tibet durch Seine Heiligkeit den Dalai Lama" bis zum "Versuch der Wiederherstellung des Feudalismus in Tibet".

Dies ist der zweite Teil der Antwortenserie der CTA (Central Tibetan Administration = tibetische Regierung-im-Exil) auf diese Anschuldigungen. Die chinesische Übersetzung dieser Erwiderung steht auf www.xizang.zhiye.org zur Verfügung; die tibetische findet sich auf www.tibet.net/tb.

Chinesischer Nationalismus, ethnische Spannungen und die Olympischen Spiele

Die chinesische und die tibetische Sicht der ethnischen Spannungen

Die Tibeter sind außerordentlich besorgt darüber, daß die Behörden nun versuchen, die chinesische Bevölkerung gegen die Tibeter aufzubringen. China spielt ein gefährliches und verantwortungsloses Spiel, wenn es die Proteste in Tibet benutzt, um die ethnischen Spannungen anzuheizen. Der Kampf der Tibeter richtet sich gegen die verfehlte Politik aus Peking, nicht gegen die chinesische Nation als solche oder gegen die chinesische Kultur und auch nicht gegen das chinesische Volk. Die Tibeter wehren sich gegen eine Politik der totalen Assimilation an die chinesische Mehrheitsbevölkerung. Durch die jüngsten Proteste, die noch immer anhalten, wollen die Tibeter die Behörden dazu bewegen, Abstand von dieser Politik zu nehmen und statt dessen neue Rahmenbedingungen mit größeren Freiheiten für sie zu schaffen.

Am 28. März richtete S.H der Dalai Lama einen Appell an das chinesische Volk. Darin erklärte er. "Die jüngsten Unruhen zeigen deutlich, wie ernst die Lage in Tibet ist und wie dringend notwendig eine friedliche und für beide Seiten vorteilhafte Lösung durch den Dialog ist. Selbst in diesem kritischen Augenblick habe ich gegenüber der chinesischen Führung meine Bereitschaft zur Zusammenarbeit zum Ausdruck gebracht, um Frieden und Stabilität herbeizuführen… Chinesische Brüder und Schwestern, wo auch immer Ihr Euch aufhaltet - in tiefer Sorge appelliere ich an Euch, helft dabei, die Mißverständnisse zwischen unseren Völkern auszuräumen! Ich appelliere an Euch, tragt dazu bei, daß auf dem Weg der Gespräche im Geiste des Entgegenkommens und der Verständigung eine friedliche und dauerhafte Lösung für die Tibetproblematik gefunden werden kann!"

Unausgewogene Berichterstattung chinesischer Medien erhöht die ethnischen Spannungen

Peking setzt seine gigantische Propagandamaschinerie ein, um das chinesische Volk davon zu überzeugen, daß diese Proteste anti-chinesisch seien. In einer Gesellschaft, deren Bürger Nachrichten und Informationen fast ausschließlich von staatlich kontrollierten Medien erhalten, entfacht dergleichen das Feuer des chinesischen Nationalismus. China hat damit schon früher gespielt. Nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Jahr 1999, schürte Peking anti-amerikanische Ressentiments. Präsident Jiang Zemin nahm den ersten Anruf von Präsident Clinton, der sich entschuldigen wollte, nicht entgegen. Gleich nach dem Bombardement erklärte die KPC in der Zeitung People’s Daily und anderen Medien, es handele sich um absichtliche Zerstörung und nicht um einen Irrtum und stellte Busse bereit, mit denen Demonstranten zur amerikanische Botschaft und den Konsulaten im ganzen Land gebracht wurden. Anti-japanische Gefühle wurden anläßlich der Fußballspiele, die im Rahmen der asiatischen Meisterschaft in China stattfanden und der Kontroverse um das japanische Geschichtslehrbuch in den Jahren 2004 und 2005 angestachelt. Die Demonstrationen damals waren derart wohlorganisiert und wurden so abrupt und überall gleichzeitig wieder abgebrochen, daß viele Beobachter Pekings lenkende Hand dahinter vermuteten. Beide Male liefen die Proteste ums Haar aus dem Ruder, als die Demonstranten dazu übergingen, lauthals die Regierung zu beschuldigen, sie zeige nicht genügend Härte gegenüber den Amerikanern und Japanern. Fareed Zakaria, der Direktor von Newsweek International, schreibt: "Sie haben schon früher anti-japanische und anti-amerikanische Proteste geschürt und gerieten dann in Panik, weil sie die Kontrolle verloren. Daraufhin haben sie ihren Kurs korrigiert."

Chinesische Intellektuelle machen sich Sorgen wegen der verzerrten Berichterstattung über die Unruhen in Tibet und deren negative Auswirkungen auf die chinesische Öffentlichkeit. Am 22 März verfaßten chinesische Gelehrte, Schriftsteller und Menschenrechtsaktivisten eine 12-Punkte-Erklärung, deren erster Punkt besagt: "Gegenwärtig hat die einseitige Propaganda in den offiziellen chinesischen Medien eher die Wirkung, ethnische Animositäten zu schüren und eine bereits aufgeheizte Situation noch weiter zu verschärfen. Dies ist dem langfristigen Ziel der Sicherung der nationalen Einheit diametral entgegengesetzt. Wir fordern, daß eine solche Propaganda eingestellt wird."

Im zweiten Punkt wird ausgeführt: "Wir unterstützen daher die dringende Bitte des Dalai Lama um Frieden und hoffen, daß der ethnische Konflikt gemäß den Prinzipien des guten Willens, des Friedens und der Gewaltfreiheit gelöst werden kann. Wir verurteilen jeden Akt der Gewalt gegen unschuldige Menschen, und bitten die chinesische Regierung dringend, die gewalttätige Unterdrückung zu beenden und bitten ebenso das tibetische Volk, von allen gewalttätigen Ausschreitungen Abstand zu nehmen." 

Im Fall von Tibet schürt die chinesische Führung die ethnischen Spannungen in fünf Bereichen. In die Reihen der tibetischen Demonstranten wurden agents provocateurs eingeschleust, die die Gewalt anheizen sollten, damit sich die Gräben zwischen Tibetern und Chinesen noch vertieften. Die anhaltende Diffamierung S.H. des Dalai Lama durch die chinesische Regierung verletzt die Gefühle der Tibeter. Das brutale Vorgehen Chinas gegen die Tibeter führt zu vollständigem Mißtrauen gegenüber den Behörden. Der propagandistische Einsatz der Medien durch die Regierung und die voreingenommene Berichterstattung erzeugen nur noch mehr Mißverständnisse in der chinesischen Bevölkerung. Auch die aktive Ermutigung chinesischer Studenten im Ausland zu Gegendemonstrationen gegen pro-tibetische Proteste fördert das gegenseitige Mißtrauen.

Die Aufgabe jeder Regierung ist eine verantwortungsbewußte Staatsführung, das heißt, sie trägt die Verantwortung für die Einheit der Gesellschaft. Tatsächlich ist es das erklärte Ziel von Präsident Hu Jintao, in China eine harmonische Gesellschaft aufzubauen. Brutale Unterdrückung und heftige Diffamierungen tragen nicht gerade zur Harmonie bei. Chinas harte Linie bei der Lösung der Tibetfrage hat zwischen Tibetern und Chinesen den bisher tiefsten Graben aufgerissen. Die Niederschlagung der Proteste, die "Patriotische Umerziehung" und der Schwerpunkt der Berichterstattung in den Medien auf den Unruhen in Tibet untergraben die Pläne von Präsident Hu Jintao für eine harmonische Gesellschaft.

Die chinesischen Intellektuellen führen in ihrem vierten Punkt aus: "Unserer Auffassung nach ist die Sprache im Stil der Kulturrevolution wie ’Der Dalai Lama ist ein Wolf in einer Mönchsrobe, ein Dämon mit einem menschlichen Gesicht und dem Herzen einer Bestie’‚ welcher sich die KP-Führung der TAR befleißigt, nicht dazu geeignet, die Lage zu entspannen und sie ist dem Ansehen der chinesischen Regierung abträglich. Da der chinesischen Regierung an der Integration in die internationale Gemeinschaft gelegen ist, sind wir der Ansicht, sie sollte einen Regierungsstil auf dem Niveau der modernen Zivilisation entwickeln."

Zhang Boshu von der chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften verfaßte eine Arbeit zu Tibet mit dem Titel: "Der Weg zur Lösung der Tibetfrage", dessen englische Übersetzung am 9. Mai auf www.chinadigitaltimes.net erschien. Darin heißt es: "Hu Yaobang betonte ausdrücklich: ’Es ist vollkommen falsch, auf die Geschichte, Sprache oder Kunst Tibets herabzusehen… Die Liebe zu den Minderheitsvölkern sollte kein leeres Geschwätz sein. Ihre Sitten und Bräuche müssen geachtet werden. Achtet ihre Sprache, achtet ihre Geschichte, achtet ihre Kultur. Wenn Ihr das nicht tut, verbreitet Ihr nur leeres Geschwätz….Tibet sollte von tibetischen Kadern verwaltet werden. Innerhalb von zwei Jahren sollten mindestens zwei Drittel der Kader in Tibet aus Tibetern bestehen… Wir sind seit 30 Jahren hier. Wir haben unsere historische Mission erfüllt… Heute gibt es in Tibet 300.000 Han-Chinesen, darunter auch die Militärangehörigen. Wie soll das funktionieren?’ Das alles kann in wenigen Worten zusammengefaßt werden: ‚Senkt die Steuern, öffnet Euch und zieht Personal ab!’. Das waren die von Hu Yaobang dringend empfohlenen Maßnahmen für die Lösung der Tibetfrage."

Warum also diese harte politische Linie angesichts ihrer klaren Ablehnung durch die Tibeter?

Weshalb setzen die Behörden, ungeachtet dieser Appelle einiger der am angesehensten chinesischen Bürger, genau die politischen Maßnahmen ein und intensivieren sie noch, die diese verzweifelte Reaktion der Tibeter verursacht haben?

Dafür gibt es drei mögliche Gründe:

1) Man will die Tibeter provozieren, Gewalt anzuwenden, um so einen Vorwand für die brutalen chinesischen Vergeltungsaktionen zuhaben.

2) Das derzeitige Propagandagewitter soll die Aufmerksamkeit der Chinesen von ihren eigenen drängenden Problemen ablenken.

3) Die Proteste in Tibet und die ungeheure internationale Sympathie für die Tibeter sollen dazu benutzt werden, den chinesischen Nationalismus zu schüren, damit er die Legitimität der KPC unterstütze.

Der tibetische Widerstand seit dem Aufstand von 1959 war friedlich. China kann seine Gewaltanwendung gegen diesen gewaltlosen Widerstand weder vor seinem eigenen Volk noch vor der internationalen Gemeinschaft rechtfertigen. Die Dämonisierung S.H. des Dalai Lama, die Diffamierung einiger tibetischer Exil-Organisationen als "Terroristen" und ihre Gleichsetzung mit Al Qaida oder dem bewaffneten Kampf in Tschetschenien, das Einschleusen von Agenten in die Reihen des tibetischen Volkes und der Versuch, die Tibeter zur Gewalt zu provozieren - das alles sind Versuche, die Brutalität bei der Unterdrückung der Proteste zu  rechtfertigen.

Die chinesischen Behörden wissen, daß ihre kompromißlose Politik die Tibeter zu dieser verzweifelten Reaktion getrieben hat. Warum erhöhen sie dann ständig den Druck? Ungeachtet des deutlichen Widerwillens der Tibeter intensivieren sie die "Patriotische Umerziehung". Sie zwingen die Tibeter, sich öffentlich von S.H. dem Dalai Lama loszusagen, sie trampeln auf seinen Portraits herum, sie zwingen die Klöster zum Hissen der chinesischen Fahne und führen ihre Kampagnen zur Herabwürdigung des Dalai Lama durch. Durch all das sehen sich Mönche und Laien gezwungen, ihre Teilnahme an diesen Kampagnen zu verweigern.

Während seines jüngsten Besuchs in Laos drängte Premier Wen Jiabao S.H. den Dalai Lama, seinen Einfluß zu nutzen, um die Lage in Tibet zu beruhigen. Warum findet sich dieser moderate Ton und die klare offizielle Anerkennung des Einflusses S. H. des Dalai Lama auf die Tibeter nicht in der Tibetpolitik wieder? Und wenn die chinesischen Behörden tatsächlich wünschen, daß S. H. etwas zur Entspannung der Situation unternimmt: Warum wird ihm dann nicht ermöglicht, daß er seine Anhänger in Tibet auch erreichen kann?

Bapa Phuntsok Wangyal, Gründer der tibetischen KP und hochrangiger Führungskader, hat eine Antwort auf diese Frage vorgelegt. Sie steht in dem Buch: "Bapa Phuntsok Wangyal: Witness of Tibetan History", zusammengestellt von Tenzin Losel, Jane Perkings, Bhuchung D. Sonam und Tenzin Tsundue, das 2007 vom Verlag Paljor Publications herausgegeben wurde. Es enthält eine Biographie von Bapa Phuntsok Wangyal und drei von ihm verfaßte Briefe an Präsident Hu Jintao aus den Jahren 2004, 2005 und 2006. Darin führt er aus, daß der Kampf gegen den Separatismus auf dem Eigeninteresse derjenigen chinesischen Führungskader beruht, die ihre Laufbahn darauf aufgebaut haben. Wenn die Tibetfrage auf dem Weg des Dialogs mit S.H. zu einer Lösung käme, wären ihre Karrieren dahin. Bapa Phuntsok Wangyal zitiert eine populäre tibetische Redensart: "Diese Leute leben vom Anti-Separatismus, sie verdanken dem Anti-Separatismus ihre Förderung und sie ziehen das große Los damit."

In seinem Brief von 2004 an Hu Jintao schrieb Bapa Phuntsok Wangyal: "Oben Gesagtes kann wie folgt zusammengefaßt werden: Je länger der Dalai Lama im Ausland lebt und je einflußreicher er wird, desto höher steigen die antiseparatistischen Kader auf und desto reicher werden sie; das Schlimmste wären für sie gute Beziehungen zwischen dem Dalai Lama und der Zentralregierung, denn dann wären sie ihre Posten los. Das ist gar nicht so weit hergeholt. Die Frage, ob gute Beziehungen zwischen dem Dalai Lama und der Zentralregierung möglich sind, hängt nicht nur mit der Veränderung der politischen Mehrheiten, dem Widerstreben oder der unverhohlenen Ablehnung durch die Nation zusammen, sondern auch mit den Beziehungen gewisser Personen untereinander und den wirtschaftlichen Vor- oder Nachteilen, die ihnen daraus erwachsen könnten."

Diese Analyse wird von Jing Huang bestätigt, der kürzlich einen Kollegen am Ostasiatischen Institut der Universität Singapur besuchte. Er berichtete Simon Eglant vom Time Magazine von einer Gruppe von etablierten Kadern (vor allem in der Einheitsfrontabteilung, dem PSB, dem Außenministerium, der Abteilung für religiöse Angelegenheiten, der tibetischen KP und der Abteilung für Minderheiten), die Jahrzehnte damit verbracht haben, vor "Spaltertum" zu warnen und die sich nicht nur keine andere Herangehensweise vorstellen können, sondern deren eiserne Reisschüssel oder anders gesagt, deren Lebensstandard von einer solchen auch massiv bedroht wäre. Deshalb, so Huang, ist praktisch die gesamte, mit der Verwaltung Tibets betraute chinesische Führungsschicht gegen eine Kompromißlösung, denn sie müßten dann nicht nur zugeben, daß ihre Tibetpolitik der letzten 20 Jahre falsch war, sondern sie gingen auch noch ihrer Positionen verlustig.

Willy Lam schreibt in einem Essay für die Jamestown Foundation: "Während die Polizei am vergangenen Wochenende in mehreren Städten Demonstranten verwarnte, die sich vor Carrefour-Supermärkten versammelt hatten, intensivierte Hu Jintaos  Regierung ihre Unterdrückungsmaßnahmen gegen die "Separatisten" in Tibet und Xinjiang – dazu greift sie gerne auf nationalistische Ressentiments zurück. Während eine Welle von "Patriotismus", um nicht zu sagen Xenophobie, über das Land schwappt, wagen die liberalen Intellektuellen, die an Peking appelliert hatten, eine versöhnlichere Politik gegenüber den beiden autonomen Regionen in Betracht zu ziehen, nicht mehr, ihre Stimme zu erheben, weil sie fürchten, als Verräter hingestellt zu werden." Das Essay mit dem Titel "Peking intensiviert den Volkskrieg gegen den Separatismus, während der Nationalismus sich erhebt" wurde am 29. April auf die Website der Jamestown Foundation gestellt. Darin wird der Herausgeber eines in Peking ansässigen Magazins zitiert, der anonym bleiben möchte: „Der Nationalismus ist für die KPC eine wirksame Waffe, um alle zum Schweigen zu bringen, die den Umgang der Behörden mit Tibet in Frage stellen."

Man kommt nicht umhin, festzustellen, daß die chinesische Tibetpolitik den Hardlinern in der Führung in die Hände gefallen ist - denen, die in der tibetischen Frage eine Endlösung  anstreben, indem sie alle Macht, die sie erreichen können dafür einsetzen, das tibetische Volk niederzuhalten. Die kompromißlose Tibetpolitik hat weniger mit den nationalen Interessen Chinas oder dem chinesischen Volk zu tun – sie ist viel mehr von diesen Hardlinern zu verantworten, die dabei nur ihre Karriere und ihre privaten Interessen im Auge haben.

Die aktuelle Tibetkrise kommt der chinesischen Führung gut zupaß, weil man das Volk damit hervorragend von dessen ureigenen drängenden Problemen ablenken kann. Die wachsende soziale Unruhe in China wird von der allumfassenden Korruption, der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich und der Preissteigerung verstärkt. Gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie. Da kommt der chinesischen Führung die Tibetkrise gerade recht, um ihre Bevölkerung zumindest kurzfristig von ihrer täglichen Mühsal und ihrem Wunsch nach Freiheit abzulenken.

Nachdem die erste Welle der fremdenfeindlichen und anti-tibetischen Ressentiments im Internet abgeebbt ist, betrachten die chinesischen Blogger und Internetnutzer die Lage in Tibet nun wieder nüchterner. Viele Chinesen haben die Nase voll von dem täglichen Tibet-Geschrei der Regierung. Tibet überall - im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen. Die Leute können dem nicht entgehen und wünschen sich wenigstens eine kurze Atempause. Immer mehr Chinesen fragen sich, was das alles soll.

Die Tibetkrise erweist sich auch für die KPC als äußerst nützlich, denn durch den aufgepeitschten Nationalismus verschafft sie sich Legitimität. Daß das notwendig für sie ist, liegt an der paradoxen Situation im heutigen China. Der Kommunismus ist untergegangen, aber die Kommunistische Partei blüht und gedeiht. In seinem Artikel "Warum China stinksauer ist", der am 24. April 2008 ins Netz gestellt wurde, schreibt Simon Elegant vom Time Magazine: "Nachdem die KPC den Marxismus-Leninismus, der früher ihr ehernes Fundament bildete, weit hinter sich zurückgelassen hat, bezieht sie ihre Legitimität aus zwei Quellen: Wirtschaftswachstum und Nationalstolz." Peter Hays Gries schreibt in seinem Buch "China’s New Nationalism": "Freimütig schlug der neo-konservative Intellektuelle Xiao Gongqing schon 1994 vor, man solle die ideologische Lücke nach dem Zusammenbruch des Kommunismus mit Nationalismus füllen, den man vom Konfuzianismus ableiten könne." Jayshree Bajoria vom Rat für Auslandsbeziehungen schreibt: "Experten zufolge kam es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, Deng Xiaopings Öffnung der chinesischen Wirtschaft und den pro-demokratischen Protesten von 1989 zur Neubelebung des Nationalismus durch die KPC."

Gries schreibt. "In Ermangelung der Legitimität, wie sie demokratisch gewählten Regierungen zueigen ist, und in Anbetracht des Zusammenbruchs der kommunistischen Ideologie steigt die Abhängigkeit der KPC vom Nationalismus, durch den sie ihre Herrschaft weiterhin zu legitimieren sucht…". In einem Leitartikel in der International Herald Tribune vom April heißt es: "Nachdem der KPC der Maoismus als Leitlinie abhanden gekommen ist, muß nun der Nationalismus die Gesellschaft zusammenhalten."

Jayashree Bajoria vom Council of Foreign Relations, http://www.cfr.org, New York, zitiert Kenneth G. Lieberthal von der Universität Michigan, der erklärt, nationalistische Proteste seien eine Kombination von echter Volkswut und staatlicher Manipulierung in der Absicht, diese zum Kochen zu bringen, was schon oft die Verhandlungsposition der chinesischen Regierung stärkte, wenn der betreffende Vorfall dann nämlich mit der schuldigen Partei verhandelt wird.

Um bei der Öffentlichkeit Rückhalt für die Legitimität ihres Vorgehens zu erhalten, behauptet die KPC die tibetischen Proteste seien gegen China gerichtet. Sie stellt auch die internationale Unterstützung und Sympathie und die Ausführlichkeit, mit der die Medien über die Ereignisse in Tibet berichteten, als eine internationale anti-chinesische Tendenz dar. Die nahezu wahnhafte und entstellte Berichterstattung über den olympischen Fackellauf und die ihn begleitenden Proteste peitschten die fremdenfeindlichen Gefühle in China auf, bis hin zu einem Boykott französischer Produkte. So schreibt Wu Hong, der China-Redakteur von www.atimes.com am 23. April: „Im Zuge des immer größer werdenden Nationalismus wurden die wenigen Chinesen – wie etwa der CCTV-Nachrichtensprecher Bai Yansong und der Photo-Redakteur von China Youth Daily He Yanguang –, die den Mut besaßen, den Boykott als irrational und schädlich für die chinesischen Interessen zu kritisieren, mit Anschuldigungen von aufgebrachten Bloggern überhäuft“. B. Raman, ehemaliger Staatssekretär im Kabinett der indischen Regierung, schreibt am 20. April in www.saag.org: „Wir erfuhren, daß die Proteste in China und auch im Ausland vom Ministerium für Öffentliche Sicherheit gefördert und gelenkt werden, also von Chinas interner Aufklärungs- und Sicherheitsagentur.“

In Tibet heißt es, die Regierung führe einen „Volkskrieg“ gegen die tibetischen Demonstranten. Nun führen diesen Krieg aber keine chinesischen Einzelpersonen, sondern die Behörden stürzen sich mit einer Heftigkeit und Grausamkeit, wie man sie seit den Tagen der Kulturrevolution nicht mehr erlebt hat, auf die festgenommenen Demonstranten. Sie werden einfach erschossen, und die Festgenommenen werden geschlagen und gefoltert. Die Klöster, in denen demonstriert wurde, werden von der Außenwelt abgeriegelt und die Nahrungs- und Wasserversorgung wird ihnen gekappt. Die Leichen der Erschossenen werden mitgenommen, damit die Tibeter vor Ort die Todesursache nicht herausfinden können. Tibet ist in zu einem Kriegsschauplatz geworden.

Unterstützung seitens der Chinesen für den Dialog und die Harmonie unter den Volksgruppen

Grace Wang, eine Studentin der Duke University in den USA schrieb im April in der Los Angeles Times einen Kommentar zum Leitartikel, der am 21. April vom Indian Express übernommen wurde. Sie ist eine der wenigen, die versuchten, zwischen den aufgebrachten chinesischen Studenten und den Tibet-Demonstranten zu vermitteln, wofür sie von chinesischer Seite regelrecht verteufelt wurde. Sie schrieb: „Als ich versuchte, zwischen den chinesischen und den pro-tibetischen Protestierenden von unserem Campus zu vermitteln, wurde ich mittendrin gepackt und von den Chinesen beschimpft und bedroht. Nach der Protestaktion gingen diese Einschüchterungsversuche im Internet weiter und ich erhielt Drohanrufe. Inzwischen wurde es noch schlimmer und sogar meine Eltern in China wurden bedroht, so daß sie untertauchen mußten.

Als ich in mein Zimmer im Studentenwohnheim zurückgekehrt war, besuchte ich die Website der Duke Chinese Students and Scholars Association (DCSSA), weil ich sehen wollte, was die Leute so sagen. Qiang Fanzhou, ein Funktionär der DCSSA, kommentierte hämisch: ’Nun haben wir ihnen aber unser wahres Gesicht gezeigt’.

Ich antwortete online darauf und erklärte, daß ich die tibetische Unabhängigkeit nicht unterstütze, so wie man mir es vorwirft, sondern daß ich für Freiheit in Tibet ebenso wie für Freiheit in China sei. Am folgenden Morgen wütete ein wahrer Sturm im Netz. Bilder von mir waren ins Netz gestellt worden mit den Schriftzügen ‚Verräterin’ quer über meine Stirn geschrieben. Dann sah ich etwas, was mir einen echten Schrecken einjagte: Die Nummern der Personalausweise meiner Eltern waren veröffentlicht worden. Eine solche Information konnte nur von der chinesischen Polizei geliefert worden sein.

Ich sah eine genaue Wegbeschreibung zum Haus meiner Eltern in China, begleitet von Aufrufen, hinzugehen und diesen ‚schamlosen Hunden’ eine Lektion zu erteilen. Da wurde mir klar, welche ernsten Ausmaße all dies angenommen hatte. Pausenlos riefen mich Leute an, die Todesdrohungen gegen mich losließen. Dann sprach ich mit meiner Mutter, die sagte, sie und mein Vater müßten sich nun verstecken, weil auch sie Todesdrohungen bekämen.“

In einem 12 Punkte umfassenden Brief schrieb eine Gruppe junger chinesischer Gelehrter: „Damit so etwas in Zukunft nicht wieder passiert, muß die Regierung die Freiheit der religiösen Überzeugung und die Freiheit der Rede respektieren, die explizit von der chinesischen Verfassung garantiert werden, womit sie dem tibetischen Volk ermöglichen würde, seinen Beschwerden und seinen Hoffnungen Ausdruck zu verleihen, sowie auch  den Bürgern aller anderen Nationalitäten, freimütig Kritik zu üben und Vorschläge bezüglich der Minderheitenpolitik der Regierung vorzubringen“.

Der zwölfte und letzte Punkt des Briefes lautet: „ Wir sind überzeugt, daß wir die Feindseligkeit überwinden und zur nationalen Versöhnung gelangen müssen, daß wir die Kluft zwischen den Nationalitäten nicht erweitern dürfen. Ein Land, das möchte, daß sein Territorium nicht auseinanderfällt, muß zuerst die Entzweiung zwischen seinen diversen Ethnien vermeiden. Deshalb appellieren wir an die Führung unseres Landes, in direkte Gespräche mit dem Dalai Lama einzutreten. Wir hoffen, daß das chinesische und das tibetische Volk die gegenseitigen Mißverständnisse aufklären, in Wechselbeziehung zu einander treten und zur Eintracht gelangen werden. Regierungsinstanzen sowie Bürgerorganisationen und religiöse Persönlichkeiten sollten große Anstrengungen im Hinblick auf dieses Ziel unternehmen“.

Sabotage oder Befürwortung der Olympischen Spiele in Peking

Einer der ständig wiederholten und schlimmsten Vorwürfe, welche die Regierung in Peking gegen Seine Heiligkeit den Dalai Lama erhebt, ist, daß er die Sommerspiele in Peking sabotiere. Dazu zitiert sie die ärgerlichen Äußerungen von Tibetern auf den Straßen der Städte und Dörfer in ganz Tibet und die Proteste, welche den Fackellauf begleiteten, als Beweise dafür, daß Seine Heiligkeit der Dalai Lama darin involviert sei.

Weit davon entfernt, die Olympiade in Peking zu sabotieren, hat gerade Seine Heiligkeit der Dalai Lama noch ehe die Spiele 2008 Peking zugesprochen wurden, das Recht Chinas, Austragungsort der Spiele zu werden, befürwortet. Bei seinem Besuch in Salt Lake City im Mai 2001 sagte Seine Heiligkeit, daß er Chinas Bewerbung um die Spiele 2008 unterstütze, wenn dadurch eine Verbesserung der Menschenrechtssituation in dem Land eintrete. Er fügte hinzu, er hätte gerne gewußt, was die Meinung des chinesischen Volkes zu den Spielen sei. Ebenso interessierte ihn die Einschätzung der Menschenrechtsgruppen. Ein CNN Bericht vom 11. Mai 2001 zitiert ihn: „Ich möchte gerne ihre Meinung kennen. Wenn sie der Ansicht sind, daß es zu einem Wandel beiträgt, wenn dieses Ereignis in China stattfindet, dann bin ich dafür“.

Wir glauben, daß diese positiven Äußerungen Seiner Heiligkeit des Dalai Lama China halfen, den Zuschlag zu erhalten, als das IOC am 13. Juli 2001 in Moskau die Gastgeberstadt wählte. So meldete CNN am 15. Mai 2001: „Pekings Bewerbung bekam letzte Woche beträchtlichen Auftrieb, als der Dalai Lama, der im Exil lebende Führer der tibetischen Buddhisten, sagte, China verdiene es, die Olympischen Spiele auszutragen“.

Als die Sommerolympiade 2008 China zugesprochen wurde, hieß Seine Heiligkeit der Dalai Lama diese Entwicklung öffentlich willkommen und sagte, er habe Pekings Angebot die ganze Zeit schon unterstützt. Gleichzeitig sagte er aber auch, es sei das Recht von Einzelpersonen wie auch von Organisationen, diese Spiele zu verwenden, um auf friedliche Weise auf die groben Menschenrechtsverletzungen in China aufmerksam zu machen, in der Hoffnung, daß diese dann eingestellt würden.

In seiner Erklärung vom 10. März 2008 wiederholte Seine Heiligkeit seine Position zu den Olympischen Spielen im Detail: „Dieses Jahr erwartet das chinesische Volk stolz und ungeduldig die Eröffnung der Olympischen Spiele. Ich habe, von den ersten Anfängen an, die Idee unterstützt, China die Möglichkeit zu geben, Gastgeber der Olympischen Spiele zu sein. Da solche internationalen Sportereignisse, besonders die Olympiade, die Prinzipien der Freiheit der Rede und des Ausdrucks, Gleichheit und Freundschaft hochhalten, sollte China sich als guter Gastgeber erweisen, indem es dafür sorgt, daß es diese Freiheiten gibt. Deshalb sollte die internationale Gemeinschaft, neben dem Entsenden ihrer Athleten, die chinesische Regierung an diese Werte erinnern.

Ich habe erfahren, daß viele Regierungen, Einzelpersonen und Nicht-Regierungs-Organisationen auf der ganzen Welt angesichts der Möglichkeit, die es für China gibt, sich positiv zu verändern, aktiv wurden. Ich bewundere ihre Aufrichtigkeit. Ich möchte nachdrücklich betonen, daß es sehr wichtig ist, auch die Zeit nach der Beendigung der Spiele im Blick zu behalten. Die Olympischen Spiele werden ohne Zweifel großen Einfluß auf das Denken der chinesischen Bevölkerung haben. Deshalb sollte die Welt ihre Energien gebündelt einsetzen, einen kontinuierlichen Wandel innerhalb Chinas selbst herbeizuführen, nachdem die Olympiade beendet ist.“

Auf die massiven Demonstrationen in Tibet seit dem 10. März und das brutale Einschreiten der bewaffneten Kräfte gegen die Demonstranten hin, als die Rufe nach einem Boykott der Olympischen Spiele in Peking immer lauter wurden, kommentierte Seine Heiligkeit, ein Boykott sei zu radikal und er sei dagegen.

Eine weitere Anschuldigung der chinesischen Regierung ist, die Tibetische Exilregierung habe bei der 5. Internationalen Konferenz der Tibet-Unterstützungsgruppen (Tibet-Support-Groups/TSG) im Mai 2007 in Brüssel eine Verschwörung zur Sabotage der Olympischen Spiele in Peking angezettelt.

Tatsache ist, daß alle TSG-Konferenzen, angefangen von der ersten 1990, von der Tibetischen Exilregierung (CTA) organisiert wurden. Besonders ab der zweiten Konferenz, die 1996 in Bonn stattfand, arbeitete die CTA dabei mit der Friedrich-Naumann Stiftung (FNS) Hand in Hand. Bei all diesen Konferenzen wirkten sowohl die CTA als auch die FNS als Moderatoren. Die Tagesordnung für die Konferenzen wurde von den TSGs ausgearbeitet und verantwortlich für die folgenden Aktionspläne und Resolutionen zeichnen ebenfalls die TSGs. Während der Konferenz in Prag wurden sogar Bedenken laut, ob es für die CTA angemessen sei, diese Konferenzen zu organisieren. Darüber wurde dann abgestimmt. Die Mehrheit der Teilnehmer wünschte, daß die CTA auch die zukünftigen TSG-Konferenzen organisiere.

Abgesehen von der Moderation dieser Konferenzen empfindet es die CTA als ihre Aufgabe, ihren Standpunkt zu erläutern und die Unterstützung der Teilnehmer für den Mittleren Weg zu gewinnen, bei dem für alle Tibeter die Lösung einer ernstzunehmenden Autonomie in einer einzigen tibetischen Verwaltungszone angestrebt wird. Solches wurde von dem Kalon Tripa, Professor Samdhong Rinpoche, vorgetragen, sowohl bei der Konferenz in Prag als auch bei der in Brüssel. Der Sondergesandte Seiner Heiligkeit des Dalai Lama, Lodi Gyari, unterrichtete die Teilnehmer über den Verlauf der Gespräche zwischen der chinesischen und der tibetischen Seite.

Die chinesischen Medien behaupten auch, daß Paula Dobriansky, die Sonderbeauftragte für die Tibet-Frage bei dem US-State Department, die 5. Internationale TSG-Konferenz besuchte habe. Das stimmt aber nicht, sie war nicht anwesend. Das ist ein deutlicher Beweis dafür, wie die chinesischen Medien Falschinformationen verbreiten.

Der Sitzungsverlauf bei all diesen Konferenzen war absolut transparent. Die Eröffnungs- und Abschlußveranstaltungen dieser Konferenzen standen den internationalen Medien, wozu auch Reporter von Xinhua zählten, offen. Zu jenem Zeitpunkt meldeten die Xinhua Reporter aber nicht, daß sich dort „Spalter verabredeten, die Pekinger Olympiade zu sabotieren“.