9. Juli 2021
Central Tibetan Administration (CTA), www.tibet.net, Human Rights Watch (HRW), www.hrw.org

Vier tibetische Mönche des Klosters Tengdro in Tingri zu „außerordentlich harten Strafen“ verurteilt

Chinas Vorgehen gegen das Kloster Tengdro und Einschränkungen der Kommunikation in Tibet

„Die Täter müssen hart und schnell bestraft werden, die Ämter für öffentliche Sicherheit und Kultureinrichtungen müssen mit furchteinflößender Macht gegen sie ermitteln und sie verfolgen.“

Zitat von Dong Yunhu, dem ehemaligen Leiter des Propagandabüros der Autonomen Region Tibet, beim TAR-Meeting vom 2. Februar 2015 „zur Förderung der Niederschlagung und Aufklärung über die Unterwanderung durch die reaktionäre Propaganda für die Unabhängigkeit Tibets“.

Ende August oder Anfang September 2019 ließ Choegyal Wangpo, ein 46-jähriger Mönch aus dem Kloster Tengdro im Landkreis Tingri in der Autonomen Region Tibet (TAR), bei einem Besuch in der Regionalhauptstadt Lhasa versehentlich sein Mobiltelefon in einem Café liegen. Der Café-Besitzer übergab das Telefon der Polizei, die auf diesem Mitteilungen von Choegyal Wangpo an andere Tibeter fand, die ursprünglich aus seiner Gegend in Tingri stammen und jetzt in Nepal leben, wo sie ein Kloster gegründet haben. Daraus ging hervor, daß Choegyal Wangpo aus dem Kloster Tengdro eine Spende geschickt hatte, um diesen Tibetern beim Wiederaufbau ihrer Gemeinschaft nach dem verheerenden Erdbeben im April 2015, das in ganz Nepal große Verwüstungen angerichtet hatte, zu helfen.

Tengdro Mönche: Choegyal Wangpo, Lobsang Jinpa, Norbu Dhondup, Ngawang Yeshe

Die Polizei in Lhasa nahm Choegyal Wangpo sofort fest und verhörte ihn, wie berichtet, unter schweren Schlägen.

Diese Festnahme setzte eine Kette von Ereignissen in Gang: Ein Aufgebot an Polizei und anderen Sicherheitskräften reiste in Choegyal Wangpos Heimatdorf Dranak und führte eine Razzia in dem Dorf und dem angrenzenden Kloster Tengdro durch. Während der nächtlichen Razzia schlug die Polizei eine Reihe von Dorfbewohnern und Mönchen von Tengdro schwer und nahm etwa 20 von ihnen fest. Es wird vermutet, daß sie wie Choegyal Wangpo unter dem Verdacht festgehalten wurden, Botschaften mit anderen Tibetern im Ausland ausgetauscht, zur Erdbebenhilfe im Schwesterkloster in Nepal beigetragen und Fotos oder Literatur mit Bezug zum Dalai Lama besessen zu haben.

Die Polizei begann daraufhin, alle Mönche von Tengdro zu verhören, und ein Team von Kadern unterzog sie und die Dorfbewohner der täglichen politischen Umerziehung. Drei Tage nach der Polizeirazzia im Dorf und im Kloster setzte Lobsang Zoepa, ein Mönch des Klosters Tengdro und ein Einwohner von Dranak, seinem Leben ein Ende, offensichtlich aus Protest gegen den Umgang der Behörden mit seiner Familie und seiner Gemeinde. Kurz nach Lobsang Zoepas Selbstmord wurde die Internetverbindung zum Dorf gekappt.

Quellen berichteten Human Rights Watch, daß die meisten der 20 Mönche, die bei oder kurz nach der Razzia festgenommen wurden, darunter die Mönche Ngawang Samten, 50, Lobsang, 36, und Nyima Tenzin, 43, mehrere Monate lang ohne Gerichtsverfahren in der nahe gelegenen Kreisstadt Tingri festgehalten wurden. Es wird vermutet, daß diese Inhaftierten freigelassen wurden, nachdem sie versprochen hatten, keine politischen Handlungen zu begehen, doch die Rückkehr in ihr Kloster wurde ihnen verwehrt.

Drei Mönche des Klosters Tengdro wurden hingegen nicht freigelassen: Lobsang Jinpa, 43, stellvertretender Leiter des Klosters; Ngawang Yeshe, 36, der während der nächtlichen Razzia am 4. September festgenommen wurde; und Norbu Dondrub, 64, Hauptgeistlicher und Hausverwalter des Klosters und der dritt-rangälteste der Mönche, der einen Monat später festgenommen wurde. Diese Mönche wurden das folgende Jahr im Gefängnis Nyari in der Nähe von Shigatse, dem Verwaltungsgebiet, zu dem Tingri gehört, zusammen mit Choegyal Wangpo eingesperrt.

Kloster von Tengdro

Im September 2020 verhandelte das Mittlere Volksgericht von Shigatse die Fälle der vier Mönche hinter verschlossenen Türen und mit unbekannten Anschuldigungen. Sie wurden für schuldig befunden und zu außerordentlich harten Strafen verurteilt: Das Gericht verurteilte Choegyal Wangpo zu 20 Jahren Gefängnis, Lobsang Jinpa erhielt eine 19-jährige Haftstrafe und Norbu Dondrub, der durch die Schläge der Polizei lebensgefährlich verletzt worden war, wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt. Ngawang Yeshe wurde zu 5 Jahren Haft verurteilt.

Dieser Bericht von Human Rights Watch ist der erste über die Razzia im Kloster Tengdro und ihre Folgen, einschließlich mehrerer Verhaftungen und eines Selbstmordes, der in irgendeinem Medium innerhalb oder außerhalb Chinas erschienen ist. Er bietet auch eine Analyse dessen, was der Fall über die Bedingungen in Tibet heute zeigt und bewertet mögliche Gründe für die beispiellos harten Strafen, die drei der vier Mönche für geringfügige Online-Aktivitäten und Kommunikationen erhielten, die unter Tibetern alltäglich sind. Human Rights Watch konnte keinen anderen Fall finden, in dem Tibeter wegen größerer Vergehen zu so langen Haftstrafen verurteilt wurden, ohne daß Informationen auftauchten, die die Härte der Strafe erklären.

Bei den Angeklagten handelte es sich um ältere Mönche in einer abgelegenen ländlichen Gegend, die keine Vorgeschichte von Protesten oder Aktivismus hatten. Es ist unwahrscheinlich, daß sie in verbotene politische Aktivitäten verwickelt waren, ohne daß dies in ihrer Gemeinde bekannt gewesen wäre. Bei früheren Fällen, in denen Tibeter wegen politischer Aktivitäten verurteilt wurden, waren ihre Aktivitäten entweder der Gemeinschaft oder der Polizei bekannt, oder lokale Beamte gaben informell einige Informationen über die Anschuldigungen preis, um die Glaubwürdigkeit innerhalb der lokalen Gemeinschaft zu erhalten und den Eindruck einer willkürlichen Verfolgung zu vermeiden. In diesem Fall sind jedoch keine Berichte ans Licht gekommen, die auf eine politische oder Dissidenten-Aktivität der Mönche hingewiesen hätten, abgesehen von „Routinevergehen“, wie auf ihren Handys gespeicherten Bildern des Dalai Lama und dem Austausch von Nachrichten mit Landsleuten im Ausland, ohne irgendeinen Hinweis auf einen als subversiv angesehenen Zweck.

Tengdro Mönche während des Gar Cham Festes, 2017

Die Informationen, die über den Fall Tengdro verfügbar sind, deuten darauf hin, daß die Angeklagten an keiner nennenswerten kriminellen Aktivität teilgenommen haben, auch nicht im Sinne des chinesischen Rechts. Während Tibeter in Tibet oft vermeiden, politisch heikle Äußerungen zu machen, kommunizieren sie routinemäßig mit Landsleuten in anderen Ländern per Telefon oder Textnachricht, und kein chinesisches Gesetz verbietet dies derzeit. Das Versenden von Geld ins Ausland, wie es auch hier der Fall war, wird vermutlich überwacht, ist aber in China nicht illegal, es sei denn, es beinhaltet ein spezifisches Vergehen wie Betrug, Kontakt mit einer illegalen Organisation, Anstiftung zum Separatismus oder Spionage, was auch hier nicht der Fall gewesen zu sein scheint.

Selbst wenn die Behörden die Mönche wegen solcher Vergehen für schuldig befunden hätten, sind die harten Strafen ohnegleichen. Chinesische Gerichte verhängen extreme Strafen in der Regel nur bei Wiederholungstaten oder für die Beteiligung an Aktivitäten wie der Organisation von Protesten, illegalen Organisationen, Spionage, Gewalttaten oder in zunehmendem Maße der Verbreitung inoffizieller Nachrichten. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, daß einer der Mönche von Tengdro vorbestraft gewesen wäre oder an solchen Aktivitäten teilgenommen hätte.

Dies ist nicht der erste Fall im Landkreis Tingri, bei dem Tibeter wegen kleinerer oder erfundener Vergehen extrem hart bestraft wurden. Auch über die Urteile in einem früheren Fall wurde bisher nicht berichtet: Es handelt sich um einen kleineren Vorfall im Mai 2008 im Kloster Shelkar Choede in der Kreisstadt Tingri. Bei diesem Vorfall wurden zwölf Mönche nach einer Auseinandersetzung mit lokalen Kadern verhaftet, die verlangt hatten, daß sie während einer politischen Bildungsveranstaltung den Dalai Lama denunzieren. Nach Informationen aus der Gegend wurden zwei Mönche, Tenzin Gepel und Khyenrab Nyima, zu 17 bzw. 15 Jahren Haft verurteilt, nur weil sie während der Schulung mit den Kadern gestritten hatten (1).

In diesem früheren Fall wurde die Weigerung der Mönche, den Dalai Lama zu denunzieren, von den Behörden, die nach einer Protestwelle in der Region vor zwei Monaten eine Razzia durchgeführt hatten, als „Anstiftung zum Separatismus“ und somit als kriminell gewertet. Nichtsdestotrotz war die Verurteilung von Tenzin Gepel und Khyenrab Nyima angesichts der Art ihrer Handlungen außerordentlich hart und weist einige Gemeinsamkeiten mit dem Fall Tengdro auf.

Während Human Rights Watch aufgrund von Informationsbeschränkungen für Nachrichten aus Tibet keine endgültige Erklärung für die Urteile im Fall Tengdro liefern kann, glauben wir, daß die außergewöhnlich harten Urteile den zunehmenden Druck auf chinesische Bürokraten widerspiegeln, Fälle von politischer Subversion ausfindig zu machen und zu bestrafen, selbst wenn die angebliche Subversion nur eine Erfindung der Beamten ist.

Dieser Druck führt auch dazu, daß die Behörden neuerdings die präventive Kontrolle betonen, insbesondere in Minderheitengebieten: Beamte wurden angewiesen, das Prinzip der präventiven Sicherheit in ihre Arbeit zu integrieren, d.h. potentielle Täter zu identifizieren, bevor es zu einer kriminellen Handlung kommt. In seiner extremsten Form zeigt sich dies in der Praxis der Massenverhaftungen von uigurischen Muslimen in der Region Xinjiang.

Der Fall Tengdro scheint ein Beispiel für präventive Kontrolle im tibetischen Kontext zu sein: Die Härte der Urteile in Verbindung mit dem Fehlen von Informationen, die auf eine ernsthafte kriminelle oder politische Aktivität der Mönche hindeuten würden (was in fast allen anderen Fällen, in denen die Behörden vergleichbare Urteile verhängten, der Fall war), ist schwer anders zu erklären.

Dieser Druck, präventiv zu handeln, könnte im Fall Tengdro durch die Anzahl der beteiligten Behörden innerhalb der chinesischen Bürokratie noch verstärkt worden sein. Besonders in Tibet und Xinjiang ist Sicherheit kein Thema, das sich auf Beamte in den Abteilungen für öffentliche Sicherheit oder nationale Sicherheit beschränkt: Alle Kader auf jeder Ebene und in jeder Behörde tragen dafür die Verantwortung, Bedrohungen der nationalen Sicherheit und der sozialen Stabilität zu erkennen und zu bekämpfen.

Darüber hinaus betraf der Fall Tengdro sich überschneidende Bereiche von Politik und Verwaltung: Beamte aus zahlreichen Abteilungen könnten in den Fall involviert gewesen sein, unter anderem das Büro für öffentliche Sicherheit, das Büro für Staatssicherheit, die Einheitsfrontabteilung, das Büro für religiöse Angelegenheiten, das Büro für Internet-Angelegenheiten der TAR und die Abteilung für Internetmanagement innerhalb des Büros für öffentliche Sicherheit.

Zu diesen Behörden gehören Beamte, die für die Verwaltung der Online-Kommunikation zuständig sind und deren Arbeit in Tibet sich darauf konzentriert, zu verhindern, daß nicht genehmigte Informationen, wie zum Beispiel Reden des Dalai Lama, von Tibetern aus dem Ausland nach Tibet gebracht oder verschickt werden. Da die Einkommen in Tibet rasch gestiegen sind, müssen die dortigen Sicherheits- und Finanzbeamten nun auch die Geldtransfers zwischen den Tibetern überwachen, wobei die jüngsten Vorschriften den Tibetern verbieten, Spenden an Projekte zu schicken, die mit dem Dalai Lama oder seiner tibetischen Exilregierung in Verbindung stehen. Die Wahrscheinlichkeit, daß diese Beamten einen harmlosen Austausch von Geldern oder Nachrichten zwischen Tibetern innerhalb und außerhalb Chinas als Unterstützung für Exilaktivisten und damit als politische Verschwörung gegen China interpretieren, ist groß.

Die Anschuldigungen gegen die Mönche von Tengdro wirken sich auch auf die Beamten aus, die für die Verwaltung der Klöster verantwortlich sind, die von der chinesischen Führung als die Schlüssel-Orte für potentielle Unruhen in Tibet angesehen werden. Obwohl die Zahl der Proteste in Tibet durch Mönche oder andere Personen in den letzten zehn Jahren stark zurückgegangen ist, müssen Beamte auf allen Ebenen zunehmend unter Beweis stellen, daß sie in ihren Gebieten eine strenge Kontrolle über die Klöster ausüben. Beamte, die für die religiöse Verwaltung in Tingri verantwortlich sind, werden bestrebt gewesen sein, den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, daß sie die Mönche von Tengdro nicht genügend überwacht haben.

Beamte, die für die Sicherheit in Tingri verantwortlich sind, sahen sich zusätzlichen Anforderungen gegenüber, da das Gebiet nahe an der Grenze zu Nepal liegt und eine beträchtliche Anzahl von Tibetern in den 1950er Jahren und erneut von den 1980er Jahren bis 2008, als die Grenzkontrollen verschärft wurden, von dort aus geflohen ist. Im Jahr 2017 rief Chinas Staatschef Xi Jinping dazu auf, die Sicherheitsmaßnahmen und die Entwicklung in den Grenzgebieten Tibets zu beschleunigen. Seitdem müssen Beamte in Gebieten wie Tingri maximale Erfolge bei der Mobilisierung von Sicherheitsoperationen in ihren Gebieten vorweisen, insbesondere um vermeintliche Infiltrationen von Anhängern des Dalai Lama aufzudecken. Diese Beamten hatten auch gute Gründe, sich selbst zu schützen, indem sie auf den Fall Tengdro mit Härte reagierten.

Diese Situation wurde noch dadurch verschärft, daß es die Polizei in Lhasa war, die zufällig eine Kommunikation mit Exilanten auf Choegyal Wangpos Telefon entdeckte. Anstatt den Fall an die lokalen Behörden weiterzuleiten, behandelte die Polizei in Lhasa den Fall als einen Vorfall auf Provinzebene und führte selbst die Razzia im Kloster und im Dorf durch. Lokale Beamte hätten ihre Karriere aufs Spiel gesetzt, wenn sie übergeordnete Entscheidungen aus Lhasa über den Fall angefochten hätten, und hätten selbst eine Bestrafung riskiert, wenn sie nicht, als Ausgleich dafür, daß sie den Fall nicht früher erkannt hatten, außergewöhnliche Sorgfalt an den Tag gelegt hätten.

Diese Faktoren scheinen sich im Fall Tengdro zu einem „wahren Sturm“ zusammengefügt zu haben, in dem Beamte aus mehreren Regierungs- und KP-Behörden versuchten, sich vor Bestrafung zu schützen oder ihre Beförderungschancen nicht zu verderben. Dies scheint zu übertriebenen Anschuldigungen gegen die Mönche und zu extremen Verurteilungen geführt zu haben, ohne daß das Beweismaterial in Betracht gezogen worden wäre. Dies illustriert die Art und Weise, wie der sich der ständig größer werdende Druck und die Anreize innerhalb der chinesischen Bürokratie zu schweren Menschenrechtsverletzungen und Justizirrtümern führen.

Human Rights Watch fordert, daß die Urteile gegen die vier Mönche aus Tengdro und die beiden aus Shelkar Choede sofort aufgehoben werden und daß die Schläge und der Selbstmord, von denen berichtet wurde, von unabhängigen Behörden untersucht werden.

Human Rights Watch: https://www.hrw.org/report/2021/07/06/prosecute-them-awesome-power/chinas-crackdown-tengdro-monastery-and-restrictions

29.5.2008, (1) Verhaftungen von Nonnen des Klosters Drakar und Mönchen des Klosters Dingri Shelkar, http://www.igfm-muenchen.de/tibet/TSC/TSC_PM_29.5.html