8. Dezember 2020/
3. Januar 2021
Central Tibetan Administration, www.tibet.net, VOA, www.voanews.com

Chinas Super-Staudamm am Yarlung Tsangpo alarmiert Indien und Bangladesh

Von Tempa Gyaltsen Zamlha, Forschungsbeauftragter am Tibet Policy Institute, Dharamsala

Der Yarlung Tsangpo ist einer der wichtigsten Flüsse in Süd-West-Tibet. Bei seinem Weg durch die Präfektur Kongpo (chin. Nyingtri) in Südtibet sorgt er für fruchtbares Ackerland entlang seiner Ufer. Er fließt dann nach Indien und Bangladesh weiter, wo er liebevoll Brahmaputra (Brahmas Sohn) genannt wird und Millionen von Menschen ernährt. Dieser mächtige Fluß ist nun durch einen weiteren Angriff durch die chinesische Staudamm-Bauwut bedroht.

Einem Bericht vom 29. November 2020 in der Global Times, einem Sprachrohr der KPCh, zufolge, plant die chinesische Regierung im Rahmen ihres 14. Fünfjahresplanes (2021-2025), an der großen Biegung des Yarlung Tsangpo im Bezirk Metok, Präfektur Nyingtri, einen „Superstaudamm“ zu bauen. Er soll in der Nähe des nordöstlichen indischen Bundesstaates Arunachal Pradesh entstehen, den Peking als „Südtibet“ beansprucht. Er soll eine Kapazität von bis zu 60 Gigawatt erreichen, annähernd dreimal so viel wie die Drei-Schluchten-Talsperre am Yangtse Fluß, dem größten Wasserkraftwerk der Welt.

Groteskerweise wird behauptet, die Talsperre sei „gut für die Umwelt und der nationalen Sicherheit, dem Lebensstandard, der Energiegewinnung und der internationalen Kooperation dienlich“.

Megastaudamm im Bezirk Medog geplant

In Wirklichkeit ist der exzessive Bau von Staudämmen am Yarlung Tsangpo weder umweltfreundlich, noch nutzbringend für die Lokalbevölkerung. Er ist vielmehr Teil einer massiven, staatlich gesteuerten, langfristigen Planung für den Massenzuzug von chinesischen Migranten, die sich permanent in der Region Kongpo niederlassen werden. Sollte diese Planung verwirklicht werden, könnte es einen irreversiblen Schaden für die Ökologie bedeuten, die lokale tibetische Identität beeinträchtigen und das hydrologische Gleichgewicht in ganz Nordost-Indien destabilisieren.

Die vielen Staudämme sollen offensichtlich einem einzigen Zweck dienen, nämlich der nationalen Sicherheit Chinas, wie wiederholt in dem Bericht betont wird.  

Nun was bedeutet „nationale Sicherheit“ in diesem Zusammenhang wirklich? Und wie könnte der Bau einer Kaskade von Megastaudämmen am Yarlung Tsangpo Chinas nationaler Sicherheit dienen?
Für die Chinesen bezieht sich der Begriff „nationale Sicherheit“ auf mehr als nur die Energiesicherheit, die die Talsperren China möglicherweise bringen könnten. Er beinhaltet auch eine rasche Entwicklung der Infrastruktur, was die Errichtung von chinesisch besiedelten Städten in Kongpo oder Südtibet erleichtern soll, ebenso die umfangreiche Rohstoffgewinnung und den Transfer von Bodenschätzen aus Tibet in die Küstenregionen Chinas garantieren, sowie entlang der indisch-tibetischen Grenze einen geostrategischen Vorteil gegenüber Indien schaffen und schließlich die Assimilierung der Tibeter in der Region durch Massenmigration aus China bewerkstelligen soll.

1. Auswirkungen auf die regionale Umwelt

Anders als in den 1960er Jahren gelten riesige Talsperren zur Wasserkraftgewinnung heute nicht mehr als umweltfreundlich und nachhaltig. Laut einem BBC-Bericht vom 5. November 2018 waren mehr als 90% der Staudämme, die seit den 1930er Jahren weltweit gebaut wurden, „teurer als erwartet“. „Sie beeinträchtigten die Flußökologie, vertrieben Millionen von Menschen und heizten durch die Freisetzung von Treibhausgasen, die bei der Zersetzung von überschwemmtem Land und Wäldern entstehen, den Klimawandel an“.

Allmählich wurde man sich in den westlichen Ländern der ökologischen und finanziellen Kosten großer Staudämme bewußt, und in den letzten Jahren wurden in Europa und Amerika immer mehr Megastaudämme zurückgebaut. Der Rückbau des Yacla de Yeltes-Damms (Nature, April 2018) in Westspanien ist Ökologen zufolge ein Meilenstein bei den Bemühungen zur Flußrenaturierung.

Einem anderen Bericht in Nature vom 5. Juli 2012 zufolge brachte die Entfernung von zwei Staudämmen am Elwha River in den Vereinigten Staaten innerhalb weniger Monate unmittelbare Vorteile für die einheimische Tierwelt. Ein Bericht in National Geographic (27. August 2014) hob hervor, daß die Vereinigten Staaten zwischen 1994 und 2014 850 Dämme entfernt haben, während in den Jahren 2012 und 2013 Hunderte rückgebaut wurden. In einer detaillierten, in American Rivers (6. Februar 2020) veröffentlichten Studie wurde festgestellt, daß die Vereinigten Staaten im Jahr 2019 allein 90 Dämme rückgebaut haben.

Doch in Tibet ist die chinesische Regierung dabei, an der 1600 km langen Strecke des Yarlung Tsangpo in Lhoka und Nyingtri, von wo aus er zuerst nach Indien und dann nach Bangladesh weiterfließt, einen Staudamm um den anderen zu bauen. In seinem langen Verlauf nährt und regeneriert der Fluß weite Teile Südwest-Tibets, also die meisten Landkreise in Lhoka und in Kongpo. Nyingtri, traditionell auch als Kongpo bekannt, ist die Heimat einiger der ältesten Wälder der Welt und war schon immer ein sicherer Lebensraum für Dutzende von seltenen Primaten-Arten. So entdeckte eine Gruppe chinesischer Wissenschaftler im Jahr 2015 im Wald um Metok eine extrem seltene Makakenspezies. Zhao Chao, ein Forscher an der Southwest Forestry University, sagte, nachdem er in Metok einen „besonderen Makaken“ zu Gesicht bekommen hatte: „Der Wald ist wie ein uraltes Museum der Natur, in dem viele einzigartige Tiere leben, von denen wir nur ein paar gesehen haben“.

Guo Guangpu, Dozent an der School of Life Sciences and Technology der Tongji-Universität in China, warnte davor, daß Wasserkraftprojekte in der Region negative Auswirkungen auf die lokale Ökologie haben könnten. Die chinesische Regierung müsse die Überflutung großer Waldgebiete vermeiden, „die vermutlich die Heimat des Weißwangen-Makaken und anderer einzigartiger Tiere sind.“

Bedauerlicherweise betreibt China seit langem den Bau von elf Staudämmen am Fluß: Zangmu und Gyatsa sind bereits fertiggestellt, Dagu und Jeixu sind im Bau, Lengda erhielt vor kurzem die Genehmigung, und der Bau weiterer Staudämme soll nun im Rahmen des 14. Fünfjahresplans beginnen. Große Staudämme überfluten unweigerlich große Landflächen um sie herum und bilden Stauseen, was einen massiven Verlust an Vegetation und Lebensraum für wild lebende Tiere bedeutet; außerdem entweichen enorme Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre.

Staudämme verursachen auch seismische Aktivitäten, Erdrutsche und plötzliche Veränderungen im lokalen Ökosystem.

Staudamm bei Zangmu

2. Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung

Der geplante Staudamm ist nur ein Teil eines massiven, staatlich gesteuerten Plans zur Entwicklung der Infrastruktur in der Kongpo-Region, um eine zukünftige Massenmigration aus China in diese nur spärlich besiedelte Region Tibets zu ermöglichen. In der Region wurde forciert Straßenbau betrieben, sogar bis zum abgelegenen Dorf Yulmey nahe der indisch-tibetischen Grenze. Die chinesische Regierung sorgte für die Sanierung und den Ausbau der 5476 km langen Nationalstraße 318, die entlang der indisch-tibetischen Grenze verläuft und chinesische Städte wie Shanghai, Wuhan, Chongqing und Chengdu mit Nyingtri, Lhokha, Lhasa und Dram in Tibet verbindet. Die vielbeachtete und derzeit im Bau befindliche Eisenbahnlinie Chengdu-Nyingtri-Lhasa mit einer Länge von 1629 km verläuft parallel zu diesem Highway. Nach ihrer Fertigstellung würde die Eisenbahnlinie für eine Massenmigration aus den chinesischen Provinzen einen direkten Zugang in diese Region bieten.

In ähnlicher Weise wurde in den letzten Jahren eine rasche Zunahme des Bergbaus in der Region verzeichnet. Einem Bericht der South China Morning Post vom 20. Mai 2018 zufolge löste eine schnell expandierende Goldmine im Kreis Lhuntse, Präfektur Lhoka, nahe der indisch-tibetischen Grenze, einen massiven Zustrom chinesischer Wanderarbeiter in die Region aus, was zu einer Menge chinesischer Restaurants, Karaoke-Bars und Geschäfte zur Versorgung und Unterhaltung der Minenarbeiter geführt hat.

Die Flut von chinesischen Wanderarbeitern könnte die Zahl der einheimischen Tibeter leicht übersteigen. Seit der chinesischen Besetzung Tibets im Jahr 1949 ist der Bevölkerungstransfer ein vorrangiges Mittel zur Assimilierung der tibetischen Bevölkerung. Viele tibetische Städte in Osttibet werden bereits von chinesischen Migranten dominiert. Städte wie Lhasa, Nagchu, Chamdo und Jyegudo in Zentral- und Nordwesttibet stehen vor einem ähnlichen Schicksal. Allerdings nennen chinesische Zuwanderer in den zentralen und den westlichen Teilen Tibets das rauhe Klima und die baumfreie Landschaft als einen Grund, sich trotz der großzügigen Anreize Pekings nicht dauerhaft an diesen Orten niederlassen zu wollen. Das macht Kongpo in Südtibet zu einem idealen Ort für die Masseneinwanderung, denn die Region hat ein angenehmes, mildes Klima mit viel Wald und einer ausgedehnten Vegetationsbedeckung. Die Stadt Nyingtri hat bereits eine dominante chinesische Präsenz und bei der weiteren Infrastrukturentwicklung könnte sie einen unaufhaltsamen Zustrom chinesischer Migranten erleben.

Bis 2035 könnten die Tibeter in der Region zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land werden, und Nyingtri würde dann nur noch wie eine weitere chinesische Stadt aussehen. Für die Tibeter in der Region gleicht daher die laufende Entwicklung der Infrastruktur einem kolonialen Fallstrick, der sie in ihrem eigenen Land marginalisiert.

Große Biegung des Yarlung Tsangpo

3. Regionale Auswirkungen

Jedes neue Infrastrukturprojekt entlang der indisch-tibetischen Grenze stellt eine weitere Bedrohung für die indische Grenzsicherheit dar. Aber der Bau einer Supertalsperre im Bezirk Metok bedeutet, daß sich die Bedrohung bis nach Arunachal Pradesh und Assam erstrecken wird. Der Einsatz von Staudämmen zu strategischen Zwecken ist eine weitere Bedrohung für Indien. Während des Zweiten Weltkriegs pflegte der Feind Staudämme zu sprengen, um mit minimalem Aufwand maximalen Schaden anzurichten. Der geplante Superstaudamm in Metok soll Berichten zufolge größer als der Drei-Schluchten-Damm werden, und die Zerstörung eines solchen Mammutdamms hätte unvorstellbare Auswirkungen auf Indien. Die unmittelbare Nähe des Staudamms zur indischen Grenze bedeutet, daß eine plötzliche Freisetzung von Wasser eine zerstörerische Flut auslösen könnte, die Indien, kaum Zeit für eine Evakuierung lassend, schnell und vernichtend erreichen würde.

Indien könnte auch mit einer doppelten Katastrophe konfrontiert werden: Wasserknappheit im Winter, da der Superdamm einen Großteil des Wasserflusses während der trockenen Jahrszeit schlucken würde, und Sturzfluten in der Regenzeit, da während der Monsunzeit überschüssiges Wasser aus dem Stausee abgelassen würde. 

Das chinesische Projekt löste auch enorme Bedenken in Bangladesh aus, das vielleicht noch schlimmer betroffen sein könnte als Indien. Experten befürchten, daß die geplante Talsperre die durchfließende Wassermenge eines Flusses beeinträchtigen könnte, der lebensnotwendig für die Bewohner und die Landwirtschaft in dem dicht besiedelten Land ist. „In der Trockenzeit leistet der Brahmaputra den wichtigsten Beitrag für Bangladesh“, sagte der Direktor des Zentrums für Umwelt- und Informationsdienste in Dhaka. Der Staudamm könnte außer der Reduzierung des Fließwassers noch mehr Schaden anrichten: „Die Sedimente werden abgefangen und damit die Nährstoffe, die von weiter oben her kommen, und das wirkt sich gewaltig auf das Ökosystem aus“.

Ein absichtlicher oder versehentlicher Durchbruch einer der Dämme am Yarlung Tsangpo könnte ein unvorstellbares Ausmaß an Zerstörung für die Menschen in Arunachal Pradesh und Assam in Indien sowie in ganz Bangladesh bedeuten. Dieses Szenerario erinnert an den Schrecken des Banqiao und Shimanan Dammbruchs in der Provinz Henan in China im Jahr 1975, bei dem 171.000 Menschen umkamen und 11 Millionen entwurzelt wurden.

Fazit

Staudämme sind dafür bekannt, daß sie die natürlichen Eigenschaften eines Flußsystems verändern und die traditionelle Lebensweise der Einheimischen aus den Fugen geraten lassen. Der Superdamm in Metok ist schon lange in Planung, und es scheint, daß Peking jetzt bereit ist, seinen Angriff auf den tibetischen Fluß zu starten. Die enormen Investitionen in den massiven Ausbau der Infrastruktur in der Region sind Teil eines staatlich gesteuerten, langfristigen Plans zur Begünstigung der Massenmigration von Chinesen in die Region Kongpo (Präfektur Nyingtri), um sowohl Tibet als auch Indien in Schach zu halten.