9. Januar 2013
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“Ich werfe mich vor den hoch verehrten Mönchen nieder, die unsägliches Leid erfuhren” von Woeser

High Peaks Pure Earth übersetzte einen Blog-Eintrag, den Woeser am 19. September 2012 auf ihrer Website veröffentlichte.

Darin läßt sie die Ereignisse, die auf den März 2008 folgten, wie sie von den Mönchen der drei Hauptklöster Lhasas erlebt wurden, wieder aufleben. Das traurige Lied in diesem Essay hat Woeser ursprünglich auf ihrem Blog im Februar 2009 veröffentlicht.

“Ich werfe mich vor den hoch verehrten Mönchen nieder, die unsägliches Leid erfuhren”

Vor einigen Monaten erhielt ich von einem Mönch aus dem fernen Kham, den ich nie zuvor getroffen hatte, eine Botschaft, in der er mich bat, das Vorwort für ein Buch, das er soeben vollendete, zu schreiben. Später erfuhr ich, daß er einer der Tausenden von Mönchen ist, die 2008 in einem der drei Hauptklöster Lhasas von der Militärpolizei festgenommen und danach inhaftiert und schließlich an seinen Herkunftsort deportiert worden war. In seinem Buch schildert er hauptsächlich diese Erfahrung, und ich war glücklich, ein Vorwort für ihn schreiben zu dürfen. In der Tat ist es das erste Mal, daß ich ein Vorwort für das Buch einer meiner Landsleute verfaßt habe.

Darin gab ich das Gespräch mit einem anderen Mönch wieder, der ähnlich Grausames erfahren hatte. Als erstes fragte er mich: „Wird die chinesische Regierung eines Tages alle Mönche töten und alle Klöster in ganz Tibet schließen, so daß es in jedem Tempel nur noch ein paar Mönche geben wird?“ Ich war überrascht und antwortete, daß so etwas niemals geschehen werde, weil dann die ganze Welt protestieren würde, und daß es das schlimmste vorstellbare Verbrechen sein würde. Eigentlich wollte ich „Verbrechen gegen die Menschheit“ sagen, aber mir fehlte der tibetische Ausdruck dafür.

Versiegelte Quartiere der Drepung Mönche

Der Mönch war jedoch anderer Ansicht und sagte mit leiser Stimme: „Ich glaube, sie würden es tun, und niemanden in der Welt würde es kümmern“. Dann fügte er hinzu: „Erinnern Sie sich nicht? 2008 wurden viele Mönche aus den drei Hauptklöstern in Lhasa solange geschlagen, bis sie starben, und viele andere wurden eingesperrt, sogar jetzt sind sie noch in Haft. Wir Mönche, wir wurden mitten in der Nacht mit vorgehaltenen Gewehrläufen aus unseren Quartieren abgeführt. Zuerst wurden wir über einen Monat lang irgendwo eingesperrt, und dann verbanden sie uns die Augen mit einer schwarzen Binde, steckten uns in einen Zug und mit der Qinghai-Tibet-Eisenbahn verfrachteten sie uns in das Militärgefängnis von Gormo [Golmud]. Dort setzten sie uns fest, bis die Olympischen Spiele vorüber waren und deportierten uns dann zwangsweise in unsere Heimatdörfer. Von da an sind wir „klosterlose“ und heimatlose Verdächtige geworden, denen nichts übrig blieb als herumzuwandern und sich treiben zu lassen. Aber weiß die Welt wirklich etwas von den großen Schwierigkeiten, die wir haben?“

Dann sagte er: „Wenn sie uns 2008 alle getötet hätten, ob in Lhasa oder in Gormo, dann glaube ich nicht, daß die Welt es je erfahren oder etwas gesagt hätte. Nachdem ich das erlebt habe, bin ich überzeugt, daß es ihnen möglich ist, in jedem Kloster Tibets zahlreiche Mönche zu töten. Beispielsweise im Kloster Kirti, wenn sich ein Mönch selbst verbrennt oder wenn andere Mönche und gewöhnliche Leute protestieren, dann hat die Militärpolizei einen Grund, auf sie zu schießen. So etwas hatten wir schon früher. Aber diesmal könnte das Ausmaß der Massaker viel größer sein, was bedeuten würde, daß das Kloster Kirti ganz zu existieren aufhörte“. Als ich diese Worte hörte, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ja, vor vier Jahren, es war einen Monat nach dem „10. März“ und dem „14. März“, überfielen um Mitternacht plötzlich Tausende von Soldaten, begleitet von tibetischen Polizisten und Kadern als Komplizen und Dolmetscher, die Klöster Drepung, Sera und Ganden. In einer einzigen Nacht verloren Tausende von Mönchen ihre Stätten religiöser Praxis, oder profan ausgedrückt, sie verloren ihr Zuhause… Niemals werde ich das Lied vergessen, das ein in Gormo inhaftierter Mönch niederschrieb und mit schmerzerfüllter Stimme sang:

Die drei Sitze von Sera, Drepung und Ganden
wurden ereilt von den Ausdünstungen der giftigen Schlange.
Untergegangen im Meer der widrigen Umstände,
ist es unmöglich, die heiligen Schriften emsig zu studieren.

O Dreifacher Juwel! Bitte führe und schütze uns!
O Dreifacher Juwel! Geschwind eile herbei!

Da das Mandala, ausgestrahlt von der Sonne der tausend Welten,
kaum Aussicht hat, zu durchdringen die Scheiben meiner Gefängniszelle,
hat die düstere Stimmung der Angst von mir Besitz genommen.

O Sonne! Zeige dich ganz schnell!
O Sonne! Wir können nicht länger warten!

Mein in den vergangenen Leben geformtes Karma
hat diesen jungen Mann zu einem Opfer der Umstände werden lassen.
An den Drei Sitzen der Gelehrsamkeit von U-Tsang
gibt es schon lange keine Freiheit der Bewegung mehr!

O karmisches Geschick!
Gewähre uns Glück!

So weisen wir hin auf den allseits bekannten Zustand der Dinge,
wieder und wieder, und sehnen uns nach der Freiheit der Bewegung.

Lied der Traurigkeit auf Tibetisch

Deshalb möchte ich dem Mönch, der diese große Bedrängnis durchlebte, aber trotz all des Leidens dieses Buch schreiben konnte, meinen Dank aussprechen. Er erfuhr ein Kapitel der finsteren Geschichte, die das vergangene halbe Jahrhundert Tibet gebracht hat. Doch solange es niedergeschriebene Zeugnisse gibt, werden wir fortbestehen, wird die Wahrheit Stück um Stück hervortreten, und es wird eine Möglichkeit geben, gegen die Abschieß- und Abschlachtkommandos der Behörden anzukämpfen.

Deshalb müssen wir all den Mönchen, die einer unserer Drei Kostbaren Schätze sind, unsere tiefste Hochachtung entgegenbringen. Durch die langsam dahinfließenden Jahre, in der Vergangenheit, heute und in der Zukunft, wird die Gesamtheit Tibets immer von den reinen weißen Schneebergen umringt sein, und der ureigene Geist Tibets wird tief dunkelrot sein, die Farbe unserer Roben, die Farbe der Sangha, die Farbe der Flammen, in denen menschliches Leben geopfert wird, er wird niemals aufhören zu existieren. Und deshalb werfe ich mich nieder, wieder und wieder, ich bekenne mich dazu und lobpreise, ich halte an ihm fest und danke.

August 2012, geschrieben in Peking