14. April 2008
Matthieu Ricard, buddhistischer Mönch und Übersetzer des Dalai Lama

Version in pdf auf zwei Seiten

Was in Tibet wirklich geschieht - Ce qui se passe vraiment au Tibet

Mit freundlicher Genehmigung von Matthieu Ricard veröffentlichen wir hier die Übersetzung eines Artikels, der in Le Figaro erschien:

In den drei letzten Wochen spielten sich in Tibet dramatische Ereignisse ab, wie nicht mehr seit den Unruhen von 1989, die damals 200 Menschen das Leben kosteten und dazu führten, dass für mehrere Monate das Kriegsrecht eingeführt wurde. Ebenso, wie es auch jetzt vor einigen Tagen der Fall war, hat die chinesische Regierung damals geleugnet, das Feuer auf die Demonstranten eröffnet zu haben. Erst musste ein paar Monate später auf dem Tianamen-Platz Blut fließen, um im Nachhinein für das Blut zu zeugen, das in Lhasa vergossen worden war.

Der Jahrestag des 10. März 1959 - des Tages, an dem die Tibeter sich erhoben, um gegen die Besetzung ihres Landes durch die Truppen des kommunistischen China zu protestieren - ist immer ein Augenblick der Spannung auf dem Dach der Welt. Die Behörden sind auf der Hut und schränken die Zahl der ausländischen Touristen ein, die sich dort aufhalten dürfen. Doch dieses Jahr kamen noch mehrere Faktoren dazu, die die ohnehin vorhandenen Spannungen anheizten. Abgesehen von der zeitlichen Nähe der olympischen Spiele gibt es die rapide angestiegene Arbeitslosigkeit der Tibeter, die sich seit 2007 dem Ansturm der chinesischen Arbeiter mit der neuen Bahnlinie, die von nun an China mit Tibet verbindet, ausgesetzt sehen und dadurch sehr benachteiligt sind. Es kommt noch die Verbitterung hinzu, ausgelöst durch die Intensivierung der zwangsweisen Seßhaftmachung der Nomaden, die man dazu zwingt, in auf Kredit gekauften Häusern zu wohnen, womit sie für Jahrzehnte verschuldet sind; ebenso geschieht der Raubbau, der durch den Bergbau an den Ressourcen Tibets betrieben wird, fast ausschließlich durch chinesische Arbeiter; obendrein wurden jüngst die obligatorischen Schulungen in patriotischer Umerziehung in den Klöstern wieder verstärkt aufgenommen.

Alles fing am Morgen des Jahrestages des 10. März damit an, dass ein Mann im Herzen Lhasas herumlief, eine tibetische Fahne schwenkte und rief "Freiheit für Tibet!" Zu ihm gesellten sich bald einige Mönche aus dem Kloster Drepung, die alle von der Polizei brutal unter Kontrolle gebracht und abgeführt wurden, was die Bevölkerung von Lhasa auf die Straße trieb. Die Demonstrationen nahmen am 14. März ein größeres Ausmaß an und man wunderte sich, dass auf dem Barkhor, dem tibetischen Zentrum von Lhasa (dessen Bevölkerung jetzt zu 80 % aus Chinesen besteht) die Polizei so wenig eingriff, als die Tibeter damit begannen, Geschäfte und Restaurants, die Chinesen gehörten, in Brand zu setzen, was bedauerliche Akte von Gewalt darstellt, aber auch Aufschluss gibt über die Verzweiflung, die sie nicht mehr beherrschen konnten. Zehntausend Polizisten warteten jedoch am Fuße des Potala stationiert, bereit jederzeit einzugreifen und man weiß, dass die chinesische Polizei normalerweise keine Samthandschuhe anzieht, wenn sie es mit der tibetischen Bevölkerung zu tun hat, gegen die sie im Allgemeinen mit größtmöglicher Brutalität vorgeht. Derselbe Vorgang hatte sich nämlich schon 1989 abgespielt, weshalb mit dem Problem vertraute Beobachter den Verdacht hegen, dass die Chinesen, weit davon entfernt, überfordert oder unentschlossen gewesen zu sein, es darauf anlegten, die Demonstrationen um sich greifen zu lassen, um damit ihre darauf erfolgenden besonders heftigen Repressionsmaßnahmen rechtfertigen zu können.

Die vom chinesischen Fernsehen veröffentlichten Bilder und die von einigen ausländischen Beobachtern, die schnell ausgewiesen wurden, mitgebrachten, waren alle im Barkhor-Viertel aufgenommen worden. Doch gleichzeitig, weit entfernt von allen Kameras, in den Vierteln Drapchi und Karma Gonsar am Stadtrand, schoss die Polizei in die Menge und es gab ungefähr hundert Opfer.

Die Informationen, die es dann ermöglichten, die erdrückende Liste aller 150 Opfer zusammenzustellen, stammen insgesamt von Tibetern, die der Gefahr trotzten, der sie sich dabei aussetzen, und weiterhin mit ihren Verwandten und Freunden in Nepal und Indien telefonierten, um sie über den Tod ihrer Anverwandten zu informieren. Sie riefen bestimmt nicht an, um Propagandasprüche zu verbreiten, sondern, um ihre Verwandten über die Dramen, die sich abgespielt hatten in Kenntnis zu setzen, und sie zu bitten, in den Klöstern Gebete für ihre Toten sprechen zu lassen. Die Vertrauenswürdigkeit dieser direkten Zeugenaussagen kann also nicht angezweifelt werden.

Ab dem 16. März wurden ebenfalls systematische Verhaftungen vorgenommen, Straße für Straße, Haus für Haus, wurden die Stadtviertel durchgekämmt und man schätzt den Personenkreis der allein in Lhasa Verhafteten auf 2000 bis 3000. Um nur ein Beispiel zu zitieren, so hat ein tibetischer Freund, Schneider von Beruf, der in Katmandu lebt, telefonisch die Nachricht von seiner Familie erhalten, dass sechs Familienmitglieder verhaftet worden seien, darunter eine alleinerziehende Mutter von 35 Jahren. Der gesamte Personenkreis wurde an unbekannte Orte verbracht und es gibt bisher überhaupt keine Nachricht auch nur von einem von ihnen.

Man erfuhr darüber hinaus, was durchaus unüblich ist, dass es in allen von Tibeter bewohnten Gebieten in den chinesischen Provinzen Sichuan, Qinghei und Gansu zu Unruhen gekommen war. So ist am 2. April, in der Stadt Kardze, in einem autonomen Bezirk im Osten von "Großtibet", die Polizei mit Gewalt in das Kloster Tongkar eingedrungen, hat Fotos des Dalai Lama zerrissen und ist darauf herumgetrampelt und hat anschließend den Mönchen befohlen, ihn öffentlich zu verleumden. Da sie das ablehnten, wurden ein alter Mönch von 74 Jahren und ein junger Laie festgenommen. Am nächsten Morgen versammelten sich etwa 700 Personen, darunter etwa 350 Mönche, vor dem Sitz der lokalen Regierungsvertreter, um ihre Freilassung zu fordern. Die Polizei hat daraufhin vergeblich die Menge aufgefordert, sich zu zerstreuen und hat dann das Feuer eröffnet, wobei fünfzehn Demonstranten, darunter sechs Frauen, ein Kind und drei Mönche, getötet wurden. Wenig später von einem Mitglied der kantonesischen Abteilung von Radio Free Asia zu den Vorkommnissen befragt, erklärte ein Beamter jedoch: " Wer hat behauptet, dass es Unruhen gegeben hätte? Wer hat gesagt, die Mönche hätten ihr Kloster verlassen? Das sind alles Lügen. Alles ist in bester Ordnung."

Einige Tage vorher war es nach ähnlichen Demonstrationen in der Provinz Aba, gleichfalls in Sichuan gelegen, den Mönchen des Klosters Kirti gelungen, die Leichen von fünfzehn von den Kugeln Getöteten zu bergen. Die Fotos dieser Leichen wurden über Handys nach draußen geschmuggelt, gingen um die ganze Welt und fügten sich mit den Bildern von Polizei und Militär, die seit dem 15. März das Zentrum von Lhasa beherrschen und den Panzern, die an allen Knotenpunkten Stellung bezogen haben, zu einem Gesamteindruck zusammen. Heute herrscht in der Hauptstadt Ausgangssperre und die Menschen müssen sich einen Passierschein holen, wenn sie einkaufen gehen wollen. Der öffentliche Verkehr zwischen Lhasa und der nepalesischen Grenze ist unterbrochen und auf den Strassen fahren nur die Militärfahrzeuge und die der Regierung. Zum dem ersten Mal seit Jahren ist es seit dem 15. März keinem einzigen Tibeter mehr gelungen, sich nach Nepal zu flüchten, während normalerweise meist mehr als hundert dort jeden Monat eintreffen.

All diesem hat die chinesische Regierung nur immer wieder den gleichen Typ von Erklärung entgegenzusetzen gehabt: die verleumderische Behauptung, es handele sich "um eine politische Verschwörung ausgeheckt vom Dalai Lama und seiner Clique, um das Mutterland zu spalten und das friedliche und harmonische Leben, das alle Ethnien in Tibet genießen, zu stören". Erst vor kurzem hat sich bei einem französischen Sender ein Sprecher der chinesischen Regierung in Peking über die " förmlichen Beweise" geäußert, die den Premierminister in die Lage versetzten zu verkünden, dass der Dalai Lama der Drahtzieher der jüngsten Demonstrationen und Gewalttätigkeiten sei. Handelte es sich dabei um abgehörte Telefongespräche, irgendwelche abgefangenen Dokumente? Dieser Vertreter Chinas antwortete: "Aber sicherlich sind wir im Besitz von Beweisen: die Demonstrationen und Gewalttätigkeiten fanden alle zu gleicher Zeit in den verschiedensten Regionen Tibets statt und waren alle von gleicher Art. Das beweist, dass sie vom Dalai Lama organisiert worden sind."

Sechs Millionen Tibeter wissen jedoch, dass der 10. März der Jahrestag der Erhebung von 1959 ist und brauchen keinen Dalai Lama, um sich daran zu erinnern. Die Nichtigkeit solcher Art von "Beweisen" verschlägt einem jedoch den Atem, besonders wenn man weiß, dass der Dalai Lama mehrfach um ein Treffen mit Präsident Hu Jintao gebeten hat, um eine Ebene der Verständigung über die Tibetfrage zu finden, und dass er - hunderte von Malen - wiederholt hat, dass er auf die Unabhängigkeit Tibets zugunsten einer wirklichen Autonomie verzichte, die es den Tibetern erlaube, friedlich ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Traditionen aufrechtzuerhalten; und dass er soweit gegangen ist, seinem Volk mit seinem Rücktritt von allen Funktionen zu drohen, wenn es weiterhin zu exzessiver Gewaltanwendung kommen würde.

Seine Position ist sehr klar: die tibetische Regierung - im - Exil ist eine Demokratie und jeder ist frei, seine Meinung zu äußern. Der Dalai Lama wird weiterhin der Sprecher seines Volkes sein, solange wie der Ansatz des Dialogs und der Gewaltfreiheit den Ausschlag geben. Doch wenn es dazu kommen sollte, dass eine Mehrheit unter den Tibetern sich für die Gewaltanwendung ausspräche, bliebe ihm keine andere Wahl, als zurückzutreten. Am 29. März, als die chinesische Führung ihn immer noch als "Schlange, die sich als Mönch verkleidet hat, um das Mutterland zu spalten" beschimpfte, veröffentlichte er seinen neuesten Aufruf: "Chinesische Brüder und Schwestern, ich bitte Euch inständig, mir dabei behilflich zu sein, die Missverständnisse zu beseitigen, die zwischen unseren beiden Gemeinschaften bestehen. Ich appelliere auch an Euch, dass Ihr uns dabei helft, durch den Dialog eine friedliche und dauerhafte Lösung für das Tibet-Problem im Geiste des gegenseitigen Verständnisses und der Versöhnung zu finden." Muss unbedingt die Gewalt weiter anhalten, damit er gehört werde? Tun wir auf jeden Fall alles, damit die Tibeter, die gerade ihr Leben dafür geopfert haben, dass die Welt hinschaut und nicht wegschaut, nicht umsonst gestorben sind.

Die konstruktivste Lösung bestünde darin, die chinesische Führung wissen zu lassen, dass die Staatschefs und die Sportler der demokratischen Länder nicht an der Eröffnungszeremonie der olympischen Spiele teilnehmen werden, es sei denn, der chinesische Präsident akzeptiert es, sich mit dem Dalai Lama zu treffen. Doch es ist wichtig, dass dieses Treffen und ihr Dialog vor den olympischen Spielen stattfinden, denn wenn die Spiele einmal vorbei sind, wird die chinesische Regierung wieder taub sein für jede Art moralischen Drucks.

China scheint vier Hauptinteressen zu haben: seine Einheit, seine Stabilität, seinen Wohlstand und sein Image. Sein Wohlstand hört nicht auf zu wachsen. Seine Einheit und seine Stabilität werden durch Gewalt aufrechterhalten. Sein Image ist verheerend. Bestünde die beste Art, Einheit und Stabilität aufrechtzuerhalten, sowie sein internationales Ansehen, das mehr als zweifelhaft ist, aufzupolieren, nicht darin, die legitimen Bestrebungen eines Volkes anzuerkennen, das es seit mehr als fünfzig Jahren unterdrückt? Weit davon entfernt, die chinesische Führungsspitze "das Gesicht verlieren" zu lassen, würde ein Dialog mit dem Dalai Lama von der ganzen Welt als eine Geste der Öffnung, die dem Geist der olympischen Spiele würdig ist, begrüßt werden.

Link zu dem Artikel auf Französisch:

http://www.lefigaro.fr/lefigaromagazine/2008/04/14/01006-20080414ARTFIG00523-ce-qui-se-passe-vraiment-au-tibet.php