Mai 2002

Kampf zur Befreiung Tibets - Das heroische Leben der Ani Pachen

von Jane Ayers aus Whole Life Times, May 2002
www.wholelifetimes.com

Mein letztes Zusammentreffen mit der tibetischen Freiheitskämpferin Ani Pachen war ein zärtlicher Moment: Wir saßen ruhig abseits in einer Ecke. Sie legte ihre Füße langsam in meinen Schoß, nahm meine Hand und legte sie zur Heilung auf ihre Knöchel. Ich fühlte mich geehrt, möglicherweise den Schmerz der Frau zu lindern, die viele als Tibets Jungfrau von Orleans betrachten. Der Schmerz in Pachens Fußknöcheln wurde nicht nur von ihrem Alter verursacht, sondern von einem Leben, das von persönlicher Stärke und von Leiden gezeichnet war. Als einziges überlebendes Kind eines Stammesführers in Tibet lernte sie zu Pferde zu reiten und zu schießen und wurde gleichzeitig darauf vorbereitet in die Familie eines anderen Häuptlings einzuheiraten. Als Teenager rebellierte sie jedoch gegen die arrangierte Heirat und wurde eine buddhistische Nonne. Erst als ihr Vater starb, war sie gezwungen das religiöse Leben, das sie angenommen hatte, aufzugeben und seine Stelle in der Führung des Stammes zu übernehmen. Sie führte 700 Bauern und Nomaden zu Pferde in den bewaffneten Widerstand gegen die einmarschierende chinesische Volksbefreiungsarmee. Nachdem sie ein Jahr später von den Chinesen gefangen genommen worden war, ertrug sie 21 Jahre lang Verhöre und Folter im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung lebte Pachen in Dharamsala, Indien, bei der Exilgemeinde des Dalai Lama. Vor zwei Jahren wanderte sie (mit anderen Mönchen und früheren politischen Gefangenen) beim "Marsch für Tibets Unabhängigkeit" von San Francisco nach Los Angeles. Dann wanderte sie von Nizza, Frankreich, nach Genf in der Schweiz, um bei den Vereinten Nationen gegen den permanenten Handelsstatus für China zu protestieren und auf die Menschenrechtsverletzungen an Tibetern durch China aufmerksam zu machen. Ani Pachen starb in diesem Februar an Herzversagen in ihrem Haus in Dharamsala.

Frage 1

Sie werden als eine Freiheitskämpferin Tibets betrachtet. Warum wurden Sie in den späten 1950er Jahren verhaftet?

"Obwohl Tibet Tausende von Jahren ein unabhängiges Land war und trotz des Vertrages, der vom chinesischen Kaiser und dem tibetischen König unterzeichnet worden war, hat China die alten historischen Absprachen nicht respektiert und ist 1949 in Tibet einmarschiert. Als eine direkte Folge dieser Invasion gab es eine massive Zerstörung und Entweihung der Kultur Tibets. 6 000 Klöster wurden zerstört; diesen Klöstern waren Schulen, Colleges und Universitäten in einem Bildungssystem eingegliedert. Sie waren auch die Schatzkammern für die tibetischen heiligen Kunstwerke und Reliquien. China weiß das, und aus diesem Grunde wurden die Klöster die ersten Angriffsziele. Sie wurden geplündert, und die Kunstwerke, Gold und Wertgegenstände wurden in Hongkong verkauft, um mehr Geld für Chinas Waffen zur Fortsetzung der Unterdrückung und des Konflikts in Tibet zu erwirtschaften. China zerstörte unser Herz und unsere Seele durch das Verbrennen unserer heiligen Schriften.

Als eine direkte Folge dieser Invasion starben 1,2 Millionen Tibeter. Frauen, Kinder, Nonnen oder Mönche: niemand wurde verschont! Mein Vater war einer der neun Führer im Distrikt Gonjo in Tibet und konnte all diese Zerstörungen nicht ertragen. Er und die neun Führer leisteten Widerstand gegen die einmarschierenden chinesischen Truppen. Er starb 1958, und weil ich das einzige Kind der Familie war, mußte ich die Verantwortung übernehmen und meine Pflicht gegenüber meiner Gemeinde und meinem Land im tibetischen Aufstand gegen Chinas Truppen 1959 erfüllen. Ich widersetzte mich den chinesischen Militärbewegungen nach Tibet, und ich versuchte mein Vaterland zu verteidigen. Deshalb verhaftete China mich und warf mich für 21 Jahre ins Gefängnis."

Frage 2

Was war die schlimmste Behandlung/Folter, die Sie in all den Jahren im Gefängnis ertragen mußten?

"Zwei Fälle waren unerträglich. Die schlimmste Bestrafung war, als mir für ein Jahr und einen Monat sehr schwere Fesseln um die Knöchel gelegt wurden, die ich in dieser Zeit 24 Stunden am Tag tragen mußte. Im Winter war es besonders quälend, denn es fühlte sich wie Brennen an, wie sie in meine Haut schnitten, weil das Eisen so kalt wurde.

Ich mußte auch für neun Monate in einem Loch in Einzelhaft leben. Ich wurde unter die Erde gesteckt und mußte in meinen eigenen Fäkalien sitzen. Es war eine schwere Zeit; es war völlig dunkel. Ich konnte kein Licht sehen und konnte mir nur noch vorstellen, ob Tag oder Nacht war. Manchmal hörte ich einen Vogel sein Lied singen und nahm an, daß es Tag war. Es war eine schreckliche Strafe - Einzelhaft in totaler Finsternis. Manche Nonnen müssen diese Strafe jahrelang ertragen. Human Rights Watch/Asia gab 1998 einen Bericht über Tibet heraus, der besagt, daß die Repression gegen Tibeter tatsächlich gewachsen ist, seit Präsident Clinton die Menschenrechte von Chinas Handelsstatus abgekoppelt hat. China verletzt nicht nur die Menschenrechte der Tibeter, sondern auch die seines eigenen Volkes. China verletzt jede Norm menschlichen Verhaltens und respektiert keine Art von internationalen Abkommen oder Gesetzen. Daher wird China durch die Zuerkennung dieses speziellen Handelsstatus nun belohnt, während es diese Ungeheuerlichkeiten begeht. China bricht alle Regeln, die von den Vereinten Nationen für grundlegende Menschenrechte aufgestellt wurden. Der Handelsstatus für China wird Tibet noch mehr versklaven, mit noch mehr Kinderarbeit für den Profit Pekings.

Aus der persönlichen Perspektive der Amerikaner ist dies nicht gut für Amerikas moralische Stärke und eurer Selbstverständnis als moralische Nation und Friedenserhalter in der Welt. Alle Menschen, die sich um die Unabhängigkeit kommunistischer Nationen bemühen, alle Menschen, die für Wahrheit und Gerechtigkeit kämpfen, alle Menschen, die wie die Tibeter für grundlegende Menschenrechte kämpfen, sind durch diese Tat des US Kongresses völlig entmutigt. Deshalb fühle ich, daß es nicht nur für die Tibeter eine wichtige Angelegenheit ist, sondern auch für Amerikaner. Wofür steht ihr? Wofür steht eure Nation moralisch und ethisch wirklich in der Welt?"

Frage 3

Die Tibeter sind also besorgt darüber, daß China der permanente Handelsstatus gewährt wird?

"Ja. Amerika kämpft gewöhnlich auf der ganzen Welt für Menschenrechte, aber wenn ihr China belohnt, wenn es so offensichtlich diese Rechte verletzt, dann wird die Basis für eure Haltung geschwächt und ihr verliert eure moralische Kraft und Charakterstärke, mit anderen Nationen weltweit über Menschenrechtsverletzungen zu sprechen. Der US Regierung muß auch bewußt sein, daß China sich ständig auf Krieg vorbereitet, während es der Welt vormachen will, daß es friedlich ist. Das ganze tibetische Plateau wird als Abschußbasis für interkontinentale Raketen benützt, die auf alle asiatischen Hauptstädte gerichtet sind. Deshalb unterstützen alle kleinen asiatischen Länder China, weil sie China auf den Tod fürchten.

Während ich im Gefängnis war, sagten die Chinesen jeden Tag, daß es für keinen der politischen Gefangenen Hoffnung gebe, wenn wir nicht geständig seien und der Führung der chinesischen Regierung folgten. Sie sagten, daß eines Tages alle Leute in der ganzen Welt unter kommunistischer Herrschaft sein würden. Wir dachten, sie würden das androhen, um alle in Angst zu versetzen, aber jetzt glaube ich, daß sie große Pläne haben, so viel von der Welt zu kontrollieren wie möglich. China wird das dafür benötigte Geld durch den speziellen Handelsstatus bekommen. Die Menschen in der ganzen Welt müssen China ernst nehmen, wenn es sagt, daß es die Supermacht Nummer eins in der Welt sein wird."

Frage 4

Der Dalai Lama verkündete, daß China in den Hauptstrom der Welt eingegliedert werden sollte, weil es sich früher oder später nach den internationalen Menschenrechtsstandards wird richten müssen. Stimmen Sie dem zu?

"Nehmt die Drohungen Chinas ernst! Die chinesische Macht ist viel größer, als die Menschen wahrnehmen. Dies ist meine Warnung: Ihr glaubt, daß, wenn durch Handelsabkommen Demokratie nach China kommt, alles gut sein wird. Nein! China hat viel größere Pläne für sich. Ich bin nur eine gewöhnliche Person. Aber denkt an meine Worte, eines Tages wird Amerika bereuen, wenn ihr Chinas Menschenrechtsverletzungen nicht ernst nehmt."

Frage 5

Sind Sie seit der Entlassung aus dem Gefängnis weiter schikaniert worden?

"1991 wurde ich entlassen und ging nach Hause; alles war zerstört und alle meine Freunde und Verwandten waren tot. Wegen des tibetischen Freiheitskampfes wurde ich beinahe wieder verhaftet, daher flüchtete ich über den Himalaya. Im Exil ist niemand grausam gegen mich. Ich habe Freiheit in einem freien Land, in Indien, erlebt. Aber die Neuankömmlinge aus Tibet bringen ein Bewußtsein für die Dringlichkeit bezüglich des Gefängnissystems in Tibet und China mit. Folterung und Mißhandlung der politischen Gefangenen werden immer schlimmer.

Es gibt 1000 politische Gefangene in Tibet. Der älteste ist 74 Jahre alt und er ist zu 44 Jahren verurteilt. Der jüngste ist unser geliebter Panchen Lama, jetzt 11 Jahre alt

Seit die USA beschlossen, Menschenrechte vom Handelsstatus zu trennen, ist es schwerer für uns, weil die internationalen Unterstützergruppen Handelsfragen als Druckmittel gegen China verwendeten, sich an Menschenrechtsstandards zu halten. Nun können wir auf China keinen Druck mehr ausüben menschlicher zu sein."

Frage 6

Sie sind 600 Meilen von San Francisco nach Los Angeles gewandert und schlossen den Marsch mit einer Protestveranstaltung am chinesischen Konsulat ab. Zusammen mit anderen tibetischen ehemaligen Gefangenen verbrannten Sie die chinesische Fahne und verlangten die sofortige Freilassung des Panchen Lama. Dann marschierten Sie mit der Nobelpreisträgerin Mairead Maguire und dem Schauspieler Richard Gere vom Weißen Haus zum chinesischen Konsulat in Washington D.C. Was waren Ihre genauen Ziele?

"Wenn China ein sechsjähriges Kind wie den Panchen Lama entführen kann, dann ist dies ein deutliches Beispiel dafür, wozu China imstande ist, um die Kontrolle zu behalten. Selbst angesichts der chinesischen Brutalität spricht der Dalai Lama noch von Frieden, aber China akzeptiert unsere Verhandlungsangebote nicht. Tibet ist verzweifelt: Sollen wir darauf warten, bis die Bitten des Dalai Lama um Autonomie akzeptiert werden, oder sollen wir jetzt selbst etwas tun, um Tibet aus dem Würgegriff Chinas zu befreien? Wenn China nicht auf Friedensangebote hören will, muß jeder Tibeter handeln, um Tibet zu befreien. Ich werde niemals aufhören, um die Freiheit Tibets zu kämpfen, solange ich atme. Wir ringen jetzt um Leben und Tod unserer Geschichte. Am chinesischen Konsulat forderten wir die Freilassung des Panchen Lama, den die Chinesen schon fünf Jahre unter Hausarrest und ohne Verbindung nach Außen halten. Ich begann meinen Marsch von San Francisco an seinem 11. Geburtstag. Er spielt eine grundlegende Rolle für das Überleben der tibetischen Kultur, und die chinesische Regierung verübte vor fünf Jahren Kindesmißhandlung, als sie ihn vier Tage, nachdem der Dalai Lama ihn als den wichtigen Linienhalter tibetischer buddhistischer Tradition identifizierte, entführte.

Wir forderten auch, daß der Kredit der Weltbank an China sofort gestoppt wird, denn er beinhaltet $ 40 Millionen für die Umsiedlung von Nicht-Tibetern nach Zentraltibet. Das ist kultureller Völkermord und führt dazu, daß Tibeter zur Minderheit in unserem eigenen Land werden, es ist eine Form ethnischer Säuberung und eine Verletzung des Abkommens über Völkermord.

Wir stellten vor dem chinesischen Konsulat in Los Angeles den tibetischen Holocaust dar. Wir weinten alle, als wir die Zeremonie zur Beendigung der Unterdrückung des tibetischen Volkes durchführten."

Frage 7

Das internationale Komitee von Rechtsanwälten für Tibet gab einen Vorabbericht heraus, der Menschenrechtsverletzungen in Tibet beleuchtet, einschließlich der Inhaftierung und Folterung tibetischer Kinder. Was müssen tibetische Kinder erleiden?

"Dieser Bericht dokumentiert illegale Festnahme, Mißhandlung, Folter und Inhaftierung tibetischer Kinder. Wir haben keine religiöse Freiheit. Im ländlichen Tibet, dem wirklichen Tibet, haben wir heute keine Schulen für tibetische Kinder. Die Chinesen sagen, es gebe Schulen, aber die sind nur in den Städten und für die Kinder chinesischer Offiziere da. Weil wir keine Menschenrechte haben, wird uns mit brutaler Gewalt begegnet, wenn wir friedlich demonstrieren, entweder werden wir auf der Stelle erschossen oder ins Gefängnis geworfen."

Frage 8

Wegen dieser Bedingungen fliehen jährlich 3 000 bis 4 000 Flüchtlinge vor der brutalen Gewalt Chinas über den Himalaya. Seit 1979 sind 40 000 Flüchtlinge nach Indien geflüchtet. Sind diese überwiegend Mönche und Nonnen?

"Ja, und Kinder, die ihr Leben für ihre Ausbildung riskieren. Sie müssen sich für immer von ihren Eltern verabschieden, nur um in Sicherheit zu sein und eine ordentliche Schulbildung zu bekommen. Kürzlich sind 60 tibetische Kinder nach Tibet zurückgegangen, um nach ihrem Schulabschluß ihre Eltern zu besuchen, und sie wurden alle verhaftet und leisten nun zur Strafe harte Straßenarbeit."

Frage 9

Wie sind die Bedingungen für Frauen in Tibet?

"Ich hatte viel Leid zu ertragen, aber es ist nicht das, was Tibeter heute erleiden. Tibetische Frauen erlitten erzwungene Abtreibungen und Sterilisationen, um die Inhaftierung ihrer Männer abzuwenden. Frauen und Kinder werden mit schmerzhaften elektrischen Schlagstöcken an ihrem Mund und Geschlechtsorgan mißhandelt. Nonnen im Gefängnis werden brutal vergewaltigt. Die chinesische Armee nimmt den Nonnen gewaltsam Blut ab. Sie sagten uns, es sei für Armeekrankenhäuser, aber es machte uns sehr schwach, weil sie so viel Blut nahmen und uns auch schlugen. Gefängnisstrafen werden manchmal um 10 weitere Jahre verlängert, wenn wir tibetische Lieder singen. Bilder des Dalai Lama sind noch immer verboten, und dabei ist er ein Nobelpreisträger! Viele werden verhaftet und gefoltert, wenn sie ein Bild von ihm besitzen.

Selbst die natürlichen Schätze Tibets werden in Mitleidenschaft gezogen - Abholzung, rücksichtsloser Bergbau, Tiere, die bis zur Ausrottung gejagt werden. Und nun wird China mehr Welthandelskapital bekommen, um noch mehr Schaden anzurichten."

Frage 10

Der Dalai Lama traf mit Ihnen und anderen Friedensmarschierern zusammen, als er in Los Angeles war. Was sagte er Ihnen, als er Sie würdigte?

"Er sagte uns, daß wir mit jedem Schritt, den wir tun, Verdienste erworben hätten. Er dankte uns dafür, daß wir 600 Meilen für die Sache Tibets gelaufen sind. Er sagte uns, daß wir mit unserer Mühe an den Sinn der Amerikaner für Freiheit und Gerechtigkeit appellierten. Ich hoffe, die Amerikaner werden Politiker wählen, die den Menschenrechten Priorität einräumen."

Jane Ayers (ladywriterjane@hotmail.com) ist eine unabhängige Journalistin, die für USA Today, L.A. Times und The Nation geschrieben hat. Das Jane Ayers Human Rights & Environmental Writing ist ein nicht profitorientiertes Projekt von SEE (Social & Environmental Entrepreneurs) aus Malibu, CA.
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