18. Oktober 2002

Tibetan Centre for Human Rights and Democracy (TCHRD)
Top Floor, Narthang Building, Gangchen Kyishong, Dharamsala 176215, H.P., India
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Pressemitteilung: Ngawang Sangdrol freigelassen, doch in schwerkrankem Zustand

Die 24-jährige tibetische Nonne Ngawang Sangdrol wurde am Donnerstag, den 17. Oktober, angeblich wegen "guter Führung" neun Jahre vor Ablauf ihrer Haftzeit aus dem Drapchi Gefängnis freigelassen. Sie hatte 12 Jahre im Gefängnis verbracht, nur weil sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hatte.

Bereits Anfang Oktober 2001 hatten die Behörden Sangdrols auf 21 Jahre lautendes Urteil um eineinhalb Jahre auf 19 ½ Jahre reduziert. Offiziell hieß es, sie habe sich diese Urteilsminderung durch "echte Reue und den Willen zur Umkehr" verdient.

Ihr in Indien lebender Bruder Jampel Tenzin widerlegt die Behauptung der Chinesen, Sangdrol sei wegen "guter Führung" vorzeitig entlassen worden. Er berichtete dem TCHRD: "Am 10. Oktober rief ich meine Familie in Lhasa an. Meine Schwester Rinzin Dolkar hatte Sangdrol im Rahmen ihrer regelmäßigen Gefängnisbesuche am 20. September aufgesucht. Sie war schockiert, Sangdrol in gesundheitlich kritischem Zustand im Gefängnisspital vorzufinden. Sie bemerkte, daß Sangdrol äußerst schwach war und keine angemessene Behandlung erfuhr. Ihr Zustand war so ernst, daß sofortiges ärztliches Eingreifen erforderlich gewesen wäre. Dolkar fiel auch auf, daß Sangdrol sich kaum bewegen oder essen konnte."

Passang Lhamo, eine ehemalige Gefangene aus Drapchi, die jetzt in Dharamsala lebt, meinte dem TCHRD gegenüber: "Sangdrol wurde wegen ihrer Teilnahme an dem Gefangenenprotest vom Mai 1998 exzessiv geschlagen und gefoltert. Sie war mehrere Stunden lang bewußtlos. Seitdem hat sie häufige Anfälle von heftigen Kopfschmerzen, außerdem ist sie herzkrank und hat Magen- und Darmbeschwerden". Das TCHRD ist daher der Ansicht, daß Sangdrol eher aus medizinischen Gründen als wegen ihres angeblichen "guten Benehmens" freigelassen wurde.

Die chinesischen Behörden greifen immer wieder zu der Praktik, Gefangene freizulassen, die sich in einem kritischen Gesundheitszustand befinden und sterben könnten. Der Zweck dieser Übung ist, die Verantwortung für den etwaigen Tod der Häftlinge von sich abzuwälzen und so internationale Kritik wegen Unterlassung einer rechtzeitigen und effektiven medizinischen Betreuung zu vermeiden.

John Kamm, der Präsident der Duihua Stiftung in San Francisco, sagte hingegen in einer Presseerklärung, Sangdrols Freilassung sei einer Bestimmung zuzuschreiben, der zufolge Gefangene, die in jugendlichem Alter inhaftiert wurden, für eine vorzeitige Entlassung in Frage kommen.

Das TCHRD möchte betonen, daß die Freilassung von Häftlingen vor dem Ablauf ihrer Haftzeiten nicht dahingehend interpretiert werden sollte, daß die chinesische Regierung sich nun etwa an die Menschenrechtsnormen halte. Das Zentrum sieht diese Gesten mit Vorsicht und Skepsis. In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung auf die internationale Kritik an ihrer sich verschlechternden Menschenrechtslage immer wieder mit derartigen Maßnahmen reagiert.

Chinas Absicht, sein Image auf der internationalen Bühne aufzupolieren und die unlängst stattgefundene Begegnung von Bush mit Jiang Zemin könnte die Pekinger Führung auch verlaßt haben, ihre Politik, die international genau beobachtet wird, zu überdenken und neu zu konzipieren. Andere Faktoren könnten die bevorstehenden personellen Veränderungen in der chinesischen Staatsführung, die Abhaltung der Olympischen Spiele in China, die internationale Kampagnenarbeit zugunsten der Freilassung von Gefangenen sein, sowie der Druck, der durch die vom Europäischen Parlament und vom US Kongreß verabschiedeten Resolutionen entsteht, die tibetische Regierung im Exil (TGIE) als die rechtmäßige Regierung Tibets anzuerkennen, sollte China bis Ende nächsten Jahres in keine echten Verhandlungen mit dieser eingetreten sein. An der allgemeinen Menschenrechtslage in Tibet hat sich jedoch nichts verbessert.

Das TCHRD freut sich über die Freilassung von Sangdrol, weil sie es nicht verdient hat, all diese Jahre im Gefängnis eingesperrt zu sein und endlose Qualen zu erleiden. Das TCHRD möchte jedoch betonen, daß es noch Hunderte von Gefangenen gibt, die weiterhin willkürlich und unter schrecklichen Bedingungen in verschiedenen Haftanstalten schmachten.

Das TCHRD möchte noch einmal darauf hinweisen, daß viele Tibeter die besten Jahre ihres Lebens hinter Gittern verbringen mußten und ungeahnte Qualen und Folter erlitten. Mindestens 77 tibetische Häftlinge sind infolge der Schläge und Mißhandlungen gestorben. Es drückt weiterhin seine Besorgnis darüber aus, daß noch so viele Tibeter ohne ordentliche Verfahren in den Gefängnissen einsitzen.

Fallgeschichte

1977 in Lhasa geboren, trat Ngawang Sangdrol, mit Laienname Rigchog, in sehr jungen Jahren in das Kloster Garu ein. 1987 nahm die damals Zehnjährige an einer Unabhängigkeitsdemonstration teil, worauf sie zwei Wochen hinter Schloß und Riegel kam. Am 28. August 1990 wurde sie wegen einer weiteren Demonstration wieder festgenommen und 9 Monate lang inhaftiert. Ein Jahr später wurde sie, weil sie erneut demonstriert hatte, zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, die sie in Drapchi zubrachte.

1993 machten Sangdrol und 13 weitere Nonnen im Drapchi Gefängnis eine Tonband-Aufzeichnung über die brutale Behandlung, der sie ausgesetzt waren, und legten ein unerschütterliches Bekenntnis zur tibetischen Unabhängigkeit ab. Die Tonkassette wurde herausgeschmuggelt und in ganz Tibet verbreitet. Sangdrol wurde deshalb der "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda" bezichtigt und mit einer 6-jährigen Verlängerung ihrer Haftzeit bestraft.

Am 31. Juli 1996 wurde Sangdrol wegen angeblicher Unordnung in ihrer Zelle noch einmal mit einer Haftverlängerung von 8 Jahren bestraft, womit ihr Gesamtstrafmaß nun 17 Jahre betrug. Tatsächlich hatte sie sich jedoch nicht erhoben, als eine Abordnung von Parteikadern ihre Zelle betrat. Ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich infolge der Mißhandlungen immer mehr und ihr rechtes Bein war ernstlich verletzt.

Als wegen der Gefängnisproteste im Mai 1998 alle Gefangenen mit Schlägen traktiert wurden, wurde Sangdrol besonders heftig mißhandelt. Das Mittlere Volksgericht von Lhasa sprach erneut eine Urteilsverlängerung aus. Trotz unterschiedlicher Berichte über das genaue Strafmaß ist das TCHRD der Ansicht, daß Sangdrols Strafe um 4 Jahre verlängert wurde, womit sie auf insgesamt 21 Jahre lautete.

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