Juli 2003


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The Department of Information and International Relations
Central Tibetan Administration
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Tibet 2003: Umwelt und Entwicklungsfragen

Tibet 2003: State of the Environment
Weißbuch der Tibetischen-Regierung-im-Exil
Dharamsala: July 2003
Nichtautorisierte Übersetzung aus dem Englischen

Inhalt
  1. Vorwort
  2. Zusammenfassung
  3. Desertifikation: Graslandpolitik
    Degradation des Weidelands: Beobachtungen internationaler Organisationen
    Pekings Angriff auf die traditionelle Viehwirtschaft
    Urbanisierung und Zerstörung des Graslands
    Fragwürdige Graslandpolitik
    Eigenverantwortung der Nomaden: Die einzig sinnvolle Lösung
  4. Erhaltung der Artenvielfalt: Politik und ihre Umsetzung
    Exotische, nicht endemische Spezies: Eine Bedrohung für den tibetischen Artenreichtum
    Schutz der Wildtiere und Jagdexpeditionen: Eine Politik der Widersprüche
  5. Ausbeutung der Ressourcen: Zustand der Umwelt
    Ausbeutung der Wasser-Ressourcen: Langzeitfolgen
    Abholzung
    Abholzungsverbot: Ein positiver Schritt, aber ist er effektiv?
    Aussaat aus der Luft und "Bergsperrung": Ungeeignete Wiederaufforstungs-Maßnahmen
    Umwidmung von Gemeindeland: ein Vehikel für die Ansiedlung von Chinesen
    Bergbauindustrie: Marginalisierung der Tibeter
    Die Eisenbahn: Der Weg zur Ausbeutung der Bodenschätze
  6. Ausblick auf die Zukunft
    Lehren aus einem alten chinesischen Sprichwort
    Unser Appell

Teil 1

Vorwort

Ich bin der Ansicht, daß die Umwelt und die dringende Notwendigkeit zu ihrem Schutz zwei Gebiete sind, wo sich die Auffassungen von Peking und der "Central Tibetan Administration" (Tibetische Regierung-im-Exil) sehr nahe kommen, was als eine solide Basis für eine vermehrte Zusammenarbeit in anderen lebenswichtigen Bereichen dienen könnte.

Die verschiedenen Kampagnen der Tibet-Unterstützungsgruppen haben ein weltweites Interesse an der bedrohten Umwelt in Tibet hervorgerufen, was zu einer Reihe von detaillierten Berichten geführt hat, die einen tieferen Einblick in die ernsthaften, teilweise irreversiblen Auswirkungen von falschen Maßnahmen, die in Tibet durchgeführt wurden, ermöglichen. Bereits in den Jahren 1992 und 2000 veröffentlichten wir ausführliche Berichte, in denen die gesamte Tragweite der Zerstörung und der Degradation der Umwelt in Tibet dargelegt wurde. Diese beiden Berichte - "Tibet: Umwelt und Entwicklungsfragen 1992" und "Tibet: Umwelt und Entwicklungsfragen 2000" - können bei ecodesk@gov.tibet.net bestellt werden*. Schließlich hat auch das Informationsbüro des Staatsrats der VR China am 10. März 2003 ein Weißbuch über den Zustand der Umwelt in Tibet mit dem Titel "Weißbuch zur ökologischen Entwicklung und zum Umweltschutz in Tibet" herausgegeben.

Zur Erreichung der im "China's Western Development Program" (Entwicklungsprogramms für den Westen Chinas) formulierten Ziele hat Peking in den letzten Jahren beträchtliche Summen in die von Minderheiten bewohnten Gebiete gepumpt, um die in diesen Regionen vorhandenen Ressourcen zu nutzen und sie dabei politisch enger an China zu binden. Die Central Tibetan Administration begrüßt es, daß einige Mitglieder der neuen chinesischen Führung sich des dringenden Anliegens des Umweltschutzes durchaus bewußt sind. Diese Führungskader haben nicht nur Bedenken hinsichtlich der Realisierung des in großem Maßstab geplanten Western Development Program geäußert, sondern auch wegen seiner negativen Auswirkungen auf die Umwelt. Einige der führenden Politiker haben des weiteren Zweifel an der Durchführbarkeit des gigantischen "Süd-Nord-Wasserumleitungsvorhabens" zum Ausdruck gebracht. Bei diesem Projekt soll Wasser aus den von Minderheiten bewohnten südwestlichen Regionen, die verhältnismäßig reich an Wasservorräten sind, in den ausgedörrten Norden, wo Desertifikation und Dürre immer mehr fortschreiten, umgeleitet werden.

Chinas jüngstes Weißbuch über die Umwelt in Tibet ist eigentlich nur eine Rechtfertigung für alle großen Entwicklungsprojekte, die China dort durchzuführen beabsichtigt, insbesondere die Eisenbahnstrecke, die Lhasa mit China verbinden soll. Wir rufen die neue chinesische Führung dazu auf, diese Großprojekte nochmals zu überdenken und sie durch kleiner angelegte Entwicklungsprojekte zu ersetzen, die der tibetischen Bevölkerung tatsächlich zum Vorteil gereichen und durch welche das ökologische Gleichgewicht in Tibet nicht gefährdet wird. Mammutprojekte, die auf die Ausbeutung von Tibets natürlichen Ressourcen abzielen, werden sich auf längere Sicht sowohl für die Tibeter als auch für die Chinesen und die Bewohner aller benachbarten Länder als katastrophal erweisen, denn sie alle sind zu ihrem Überleben auf die Flüsse des tibetischen Hochlandes angewiesen. Die verheerenden Überschwemmungen des Yangtse von 1998, welche durch die ungehemmte Abholzung in Tibet verursacht wurden, sollten Peking eine deutliche Lehre sein, daß die Durchsetzung kurzsichtiger politischer Maßnahmen in Tibet nicht ohne katastrophale Folgen für die Umwelt in China bleiben kann.

Das Ökosystem in Tibet ist nicht nur für die Bewohner des Hochlands von großer Bedeutung, sondern es hat auch Auswirkungen auf die gesamte Umwelt in Asien, weil die großen Flüsse ihren Ursprung in Tibet haben und weil das tibetische Plateau, wie wissenschaftlich nachgewiesen wurde, für die Entwicklung des Monsuns maßgeblich ist. Die unmittelbaren Auswirkungen hiervon machen sich in Indien, China, Burma, Bangladesh, Pakistan und den weiteren stromabwärts gelegenen Ländern bemerkbar.

Dieser Bericht erarbeitet eine positive Roadmap, die China dazu bringen soll, das Wohlergehen zukünftiger Generationen in Tibet und den Nachbarländern, die alle von den ökologischen Ressourcen auf dem größten Hochland der Welt profitieren, nachhaltig in Betracht zu ziehen.

Umweltfragen verdienen in Anbetracht des Wertes, den sie als Teil des gemeinsamen Erbes dieser Welt besitzen, eine ganz besondere Beachtung. Ob das politische Problem Tibet gelöst wird oder nicht, die Umweltfrage darf nicht vernachlässigt werden, da sie einen direkten Einfluß auf das Wohlergehen der Völker Indiens, Chinas und der stromabwärts gelegenen Länder hat. Aus eben diesem Grunde schlug seine Heiligkeit der Dalai Lama in seinem "Fünf-Punkte-Friedensplan" von 1987 vor, das tibetische Hochplateau nicht nur zu einer gewaltfreien Zone, sondern auch zu einem riesigen Naturschutzpark zu erklären, der dem Erhalt der Umwelt dient.

Samdhong Rinpoche
Kalon Tripa (Kabinettsvorsitzender) und Kalon für die Abteilung für Information und internationale Beziehungen
Central Tibetan Administration (Tibetische Zentralverwaltung)
Juli 2003

Teil 2

Zusammenfassung

Am 10. März 2003, dem vierundvierzigsten Jahrestag des tibetischen Volksaufstands gegen die chinesische Besatzung, veröffentlichte das Informationsbüro der VR China sein "Weißbuch zur ökologischen Entwicklung und zum Umweltschutz in Tibet" (http://english.peopledaily.com.cn/whitepaper/tbpaper/tb1.html).

Geht man von Chinas neuer Politik der Transparenz und der Betonung des Umweltschutzes aus, könnte man erwarten, daß es sich beim neuen chinesischen Weißbuch um einen objektiven und sachlichen Bericht über den Zustand der Umwelt in Tibet handelt. Statt dessen stellt dieses Weißbuch einmal mehr ein äußerst leicht zu durchschauendes Beispiel für Propagandamaterial über das besetzte Tibet dar. Es weicht den Ursachen für die gegenwärtige Umweltkrise und einer Besprechung von Pekings Umweltpolitik in Tibet aus.

Chinas Weißbuch beginnt mit der Behauptung: "Seit mehr als einem halben Jahrhundert schon sind die ökologische Entwicklung und der Umweltschutz in Tibet ein wichtiger Bestandteil der Anstrengungen zur Modernisierung Tibets". Im Westen erlebte man während der sechziger Jahren ein allmähliches Erwachen des Umweltbewußtseins. In China jedoch gab es erst in der Reformperiode, die auf den Tod Mao Zedongs folgte, gewisse Anfänge einer offiziellen Umweltpolitik und einer Umweltgesetzgebung.

Chinas erste Gesetzgebung auf diesem Gebiet, nämlich das Gesetz für den Schutz der Umwelt, wurde 1979 verabschiedet. Für Tibet markiert die verheerende Überschwemmung von 1998 am Yangtse Fluß in China den Wendepunkt, von dem an Peking die Notwendigkeit des Umweltschutzes dort klar wurde.

Das Weißbuch beginnt mit den üblichen kommunistischen Phrasen über das Tibet von vor 1950, das von "feudaler Knechtschaft" sowie der damit einhergehenden "extrem niedrigen Produktivität" und "passiver Anpassung an die natürlichen Gegebenheiten" geprägt war, weshalb es unmöglich gewesen sei, "die objektiven Gesetze der ökologischen Bedingungen Tibets zu diskutieren". Peking nennt dieses angeblich "rückständige System" als den Grund für die einseitige Nutzung der Ressourcen wie auch für die angebliche Vernachlässigung der Umwelt in dem Tibet vor 1950. Jedoch widerspricht sich derselbe Bericht im weiteren Verlauf selbst und führt aus, daß der allgemeine Zustand der tibetischen Umwelt im Vergleich zu China und dem Rest der Welt heute weit besser sei, weil der größte Teil des Ökosystems sich noch in seinem "ursprünglichen Zustand" befinde. Weiterhin äußert China die Befürchtung, daß die Tibeter im Exil und seine Heiligkeit der Dalai Lama den sozialen Fortschritt aufhalten und Tibet wieder in den Zustand "feudaler Knechtschaft" zurückversetzen könnten.

Abschließend behauptet das chinesische Weißbuch: "Die Dalai-Clique und die internationalen antichinesischen Kräfte verschließen ihre Augen vor dem ökologischen Fortschritt und der Arbeit, die für den Umweltschutz in Tibet geleistet wurde... Sie wollen nichts anderes als den sozialen Fortschritt und die Modernisierung Tibets behindern und die öffentliche Meinung für ihre politischen Ziele der Wiedereinführung der rückständigen feudalen Leibeigenschaft und der Spaltung des chinesischen Volkes gewinnen".

Diese Befürchtungen Pekings sind reine Projektionen und entbehren jeder Grundlage, sie dienen nur dazu, die Okkupation Tibets zu rechtfertigen. Erstens haben die Exiltibeter keinerlei Absicht das Ansehen Chinas zu "entstellen" oder den sozialen Fortschritt in Tibet zu behindern. Zweitens sind die Tibeter weder gegen Fortschritt und Entwicklung in ihrem Land noch gegen China eingestellt.

In etwas mehr als vier Jahrzehnten Exil haben sich die Tibeter unter der Führung Seiner Heiligkeit des Dalai Lama die Idee der Demokratie vollkommen zu eigen gemacht und, verglichen mit dem gegenwärtigem Stand des Bildungswesens in Tibet, in diesem Bereich bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Die Tibeter im Exil genießen das allgemeine Erwachsenenwahlrecht und wählen ihre Abgeordneten seit 1960 direkt in die "Versammlung der Abgeordneten des tibetischen Volkes" (Assembly of Tibetan Peoples' Deputies), das Exilparlament in Dharamsala. Im Juli 2001 haben die Tibeter als einem weiteren Schritt zur vollständigen Demokratisierung der Exilgemeinde von ihrem allgemeinen Wahlrecht Gebrauch gemacht, um zum ersten Mal in direkter Wahl den Kalon Tripa (Kabinettsvorsitzenden) zu bestimmen.

Diese demokratischen Entwicklungen sind ein deutliches Zeichen dafür, daß die Exiltibeter und Seine Heiligkeit der Dalai Lama keine wie auch immer gearteten Absichten haben, in die "feudale Knechtschaft" (der Zustand, wie China das Tibet vor 1950 darstellt) zurückzufallen und die Demokratie abzulehnen. Wir hoffen, daß auch die Tibeter in unserer Heimat bald diese Rechte mit uns teilen und in ihren Genuß kommen werden.

Die Central Tibetan Administration interpretiert Chinas Weißbuch zur Umwelt als ein Zeichen dafür, daß die chinesische Regierung wegen des gegenwärtigen ökologischen Desasters und des Entwicklungsdefizits in Tibet ernsthaft besorgt ist. Alle Initiativen, die dazu dienen, die Lebens- und Umweltqualität der tibetischen Bevölkerung zu verbessern, sind mehr als willkommen und dringend notwendig. Uns ist absolut klar, daß China jetzt der mühseligen Aufgabe und problembeladenen Herausforderung gegenübersteht, gleichzeitig Tibets Umwelt zu sanieren und zu schützen und eine nachhaltige Entwicklung in Gang zu bringen.

Staudamm Golmud - © TIN

In dieser Hinsicht haben die VR China und die Central Tibetan Administration (Tibetische Regierung-im-Exil) dieselben Ziele. Jedoch haben wir große Bedenken hinsichtlich des Sinnes der gegenwärtig von China verfolgten Entwicklungspläne auf dem Plateau und die Art und Weise ihrer Durchführung. Große Staudamm- und Wasserkraftprojekte, Landgewinnung, Seßhaftmachung von Nomaden und Einzäunen der Weidegebiete, Wiederaufforstung und Umwandlung von Farmland in Grasland und Wald sehen alle auf dem Papier sehr eindrucksvoll aus. Jedoch fragen sich die Experten, ob diese Umweltmaßnahmen tatsächlich gut durchdacht, den Umständen angemessen und auf lange Sicht vorteilhaft sind für China und für Tibet. So möchten wir fragen:

  • Warum gibt es eine so große Kluft zwischen Chinas umweltpolitischen Grundsätzen und deren Durchführung?

  • Oder: Was werden wohl die Auswirkungen der großen Infrastrukturprojekte, die in dem gegenwärtigen zehnten Fünfjahresplan der VR China und dem Entwicklungsprogramm für den Westen vorgesehen sind, auf Umwelt und Gesellschaft sein?

Zu den Mammutprojekten, wie z.B. der Eisenbahnlinie von Gormo nach Lhasa im Wert von 3,2 Milliarden US$, dem West-Ost-Stromtransfer, dem West-Ost-Gastransfer oder der Süd-Nord-Wasserumleitung wurden keinerlei fundierte Umweltgutachten oder -studien veröffentlicht. Diese Infrastrukturprojekte, die ausschließlich dazu dienen, Chinas eigenen Bedarf nach Weiterentwicklung zu befriedigen, lassen ernsthafte Bedenken aufkommen, inwieweit Chinas Engagement echt und es eigentlich bereit ist, für die Verbesserung und den Schutz der Umwelt zu sorgen und eine nachhaltige Entwicklungspolitik in Tibet zu betreiben.

Ochotona curzoniae - Pfeifhasen, © Dr Axel Gebauer

Das Dossier "TIBET 2003: Zustand der Umwelt" ist als objektive Analyse der derzeitigen Umwelt- und Entwicklungspolitik Chinas für das tibetische Plateau angelegt. Der Begriff "Tibet" bezieht sich in diesem Bericht auf alle 150 Distrikte (counties), die von Peking als tibetisch bezeichnet werden, also die sogenannte "Autonome Region Tibet", Amdo (chin. Qinghai) und die tibetischen Gebiete, die von China den Provinzen Sichuan, Gansu und Yunnan einverleibt wurden.

China sollte in diesem Bericht eine alternative Perspektive zur Behandlung von Umwelt- und Entwicklungsfragen auf dem Plateau sehen. Darüber hinaus will der Bericht unter Einbeziehung verschiedener Quellen auf die neuesten Indizien für eine Ausbeutung von Tibets Umweltschätzen aufmerksam machen. Es ist dies eine Ausbeutung, die nicht den Prinzipien der Nachhaltigkeit gehorcht und vor allem die Wasser-Ressourcen, den geheiligten Boden, die landwirtschaftlichen Flächen und Bodenschätze Tibets betrifft, während die Bevölkerungsdichte auf dem äußerst empfindlichen Plateau das verträgliche Maß schon längst überschritten hat. Pekings Politik des Bevölkerungstransfers auf das Plateau ist nur auf Grund von nicht nachhaltigem Input von außerhalb machbar, das heißt, in Form von direkten Subventionen von mehreren Milliarden Yuan jährlich, sowie der subventionierten Lieferung von im Binnenland hergestellten Konsumgütern.

Diese Kolonisierungspolitik brachte im heutigen Tibet zwei verschiedene Wirtschaftssysteme hervor. Das eine ist auf die städtischen Zentren und die Enklaven der Ressourcen-Gewinnung konzentriert, die in hohem Maß subventioniert werden, kapitalintensiv sind und von nicht-tibetischer Bevölkerung dominiert werden. Das zweite basiert auf der vorherrschend ethnisch-tibetischen ländlichen Ökonomie, die kapitalarm ist und keine staatliche Unterstützung genießt, die auch noch im 21. Jahrhundert eine Subsistenzwirtschaft darstellt und über keinen Zugang zu den in den städtischen Gebieten konzentrierten sozialen Dienstleistungen verfügt.

Teil 3

Desertifikation: Graslandpolitik

Offenes Weideland - das mehr als 60 % des tibetischen Bodens ausmacht - hat über Jahrtausende ebenso die Tibeter und ihre Herden ernährt, wie die zahlreich vorkommenden wilden Tiere. Die Experten sind sich heutzutage einig darüber, daß sich die Qualität des Graslands verschlechtert, und daß dies schwerwiegende Folgen für den Lebensunterhalt der tibetischen Nomaden wie auch für die klimatischen Bedingungen in China und dem Rest der Welt mit sich bringt. Jedenfalls scheinen die Gründe für die Degradation des Weidelands und die Faktoren, die zu diesem neuen Phänomen beitragen, von offizieller Seite verleugnet zu werden.

Folgende Faktoren, die eine hochgradige Degradation des Graslands bewirkt haben, werden in Chinas Weißbuch verschwiegen:

  • Die Umwandlung von Grasland (die fruchtbarsten Weiden in geringeren Höhenlagen) in Ackerland während des "Großen Sprungs nach vorn" in den früheren fünfziger Jahren, das seitdem brach liegt;

  • Die Beanspruchung von Gemeindeland, den traditionellen Weidegründen der Halbnomaden, im Sinne der neuen Politik der kommerziellen Entwicklung;

  • Der Rapsanbau auf den Weiden in geringerer Höhe - vor allem durch chinesische Siedler und Militäreinheiten auf den traditionell als Weideland genutzten Ebenen beim Tso Ngonpo (Kokonor) in Amdo;

  • Der unkontrollierte Goldabbau und das illegale Abernten wildwachsender Arzneipflanzen mit stillschweigendem Einverständnis der örtlichen Behörden;

  • Die Maßnahmen zur Entwicklung der Infrastruktur wie der Bau von Autobahnen, neuer Siedlungen für Zuwanderer und die Verlegung von Eisenbahnschienen;

  • Die Ausrottung von einheimischen Tierarten, was die natürliche Dezimierung der Schädlingspopulationen beeinträchtigt.

Es gibt in der VR China eine Tendenz, die Verantwortung für die Degradation des Graslands auf natürliche Faktoren, wie z.B. die globale Erwärmung oder die allgemeine Austrocknung des tibetischen Hochlandes, zu schieben - und den Nomaden mit ihren "irrationalen" und "dummen Praktiken" die Schuld zuzuschieben. Die Natur und das Ausmaß der Degradation des Weidelands muß erst noch intensiv untersucht werden, aber das Problem greift besonders im Umkreis von städtischen Siedlungen, Abbaugebieten von Bodenschätzen und Zonen mit großangelegten Entwicklungsprojekten immer mehr um sich und ist ausgesprochen gravierend.

Degradation des Weidelands: Beobachtungen internationaler Organisationen

Aus den Untersuchungsergebnissen der UNDP (United Nations Development Project), ADB (Asian Development Bank), der Weltbank, des ICIMOD (International Centre for Integrated Mountain Development) sowie weiterer Studien ist klar ersichtlich, daß die Hauptursache für die Degradation des tibetischen Graslands in der Entwicklungspolitik der Regierung liegt.

Die Erosion und Degradation des Graslands nahm unter dem Kommunismus ihren Anfang, als Nomaden und Bauern zwangskollektiviert wurden und alle Macht in den Händen der Kader mit ihren so genannten "wissenschaftlichen" Kenntnissen lag. Im Produktionsfieber der 60er und 70er Jahre fühlte sich Maos China gezwungen, den tibetischen Gebieten hohe Erträge, hauptsächlich bei der Fleischproduktion, abzunötigen, was dem saisonalen Graswuchs sehr abträglich war.

Das Krebsgeschwür der Degradation begann sich zu entwickeln, als der Umfang der Herden auf Anordnung der Kader zuerst verdoppelt und später sogar vervierfacht wurde. Die Weltbank notierte im Jahr 2002: "Zwischen 1989 und 1998 wuchs die Gesamtfläche des degradierten Weidelands um 95 %, bei einer merklichen Beschleunigung dieses Vorgangs von Mitte bis Ende der 90er Jahre. Die Schlußfolgerung, daß der Hauptgrund dafür die schlechte Entwicklungspolitik der Regierung war, ist nicht von der Hand zu weisen" (China: Air, Land and Water).

Und in dem UNDP "China Human Development Report 2002" heißt es:

"Die Desertifikation kostet China ca. 2-3 Milliarden US$ jährlich. Schätzungsweise 110 Millionen Menschen leiden unmittelbar unter ihren Auswirkungen; offiziellen Berichten zufolge werden jedes Jahr weitere 25.500 km2 zu Wüste. Letzten Endes steht der Lebensunterhalt der Menschen in den Weideregionen auf dem Spiel. Außer Zweifel steht, daß sich die Kapazität des Graslands zur Ernährung von Mensch und Tier immer weiter verringert... Die Entwicklungsmaßnahmen gehen einher mit einer beunruhigenden und weitverbreiteten Degradation des Landes. Dieses bereits aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis von Bewohner pro Landeinheit hat sich durch die großflächige Zerstörung des Graslands, durch Desertifikation, Abholzung, Bodenerosion, Versalzung, Umweltverschmutzung und Verringerung der Artenvielfalt noch weiter verschlechtert und nimmt inzwischen bedrohliche Ausmaße an...

Sandsturm bei Chaka, einem Salzsee in der Nähe des Kokonor - Desertifikation der Weiden, © Dr Axel Gebauer

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Desertifikationsrate ständig gewachsen. Zwischen den 50er und 70er Jahren wurden pro Jahr ca. 1.500 km2 Land zur Wüste. In den 80er Jahren ist diese Rate auf mehr als 2.000 km2 jährlich angestiegen, und mittlerweile verliert China jedes Jahr alarmierende 2.500 km2 Land an die Wüste. Desertifikation tritt meistens dort auf, wo Landwirtschaft und Viehwirtschaft aufeinander treffen, was teilweise die Folge einer Politik ist, die jahrelang die Landwirtschaft über die Viehwirtschaft stellte".

Gemäß dem UNDP ist China heutzutage "eines der am übelsten erodierten Länder der Welt. Annähernd zwei Fünftel seiner Gesamtfläche sind von Bodenerosion in unterschiedlichen Schweregraden betroffen, wobei es sich bei mehr als zwei Dritteln der Flächen um Grasland handelt".

Pekings Angriff auf die traditionelle Viehwirtschaft

Die Rolle des traditionellen tibetischen vom Gemeinwesen ausgehenden Weideland-Managements wurde ernsthaft ausgehöhlt. Der amerikanische Anthropologe Melvyn Goldstein und weitere internationale Sozialwissenschaftler schrieben, das traditionelle System der Viehwirtschaft sei ein seit langer Zeit erprobtes und raffiniertes Modell und so gut entwickelt, daß es eine brauchbare und nachhaltige Bewirtschaftung der knappen Weideflächen gewährleiste.

Während in China Unmengen von Daten durch wissenschaftliche Studien zu den Themen Grasland und Viehwirtschaft zusammengetragen wurden, ist so gut wie nichts über das traditionelle nomadische Risikomanagement und die Nutzung des Weidelands geschrieben worden. Der Mangel an Respekt vor den traditionellen tibetischen Methoden der Viehwirtschaft liegt hauptsächlich in Chinas Unerfahrenheit im Management von offenem Weideland begründet. Wo auch immer chinesische Bauern auf "Minderheiten-Grasland" - wie z.B. in der Inneren Mongolei - angesiedelt wurden, pflügten sie das dort heimische Gras um, pflanzten Getreide an und mußten dann zusehen, wie sich das Weideland in eine Wüste verwandelte und die Ackerkrume von den Sandstürmen weggeblasen wurde, die Peking bis zum heutigen Tag heimsuchen.

Nur wenige Chinesen zogen aus eigener Entscheidung nach Tibet. Noch weniger wußten sie irgend etwas über die Dynamik des Ökosystems in Tibet und dessen Fähigkeit, Eiseskälte und saisonbedingtes Abweiden durch wilde und domestizierte Herden zu verkraften.

Während der ökonomischen Reformen der 80er Jahre - der Öffnung Chinas zum Rest der Welt, der damals beschlossenen Politik des "Ausquetschens der Landwirtschaft zugunsten der Industrie" und der Verlagerung der sozialen Verantwortung von Peking hin zu den Lokalverwaltungen – wurde nur sehr wenig in das ausgedehnte tibetische Grasland investiert. China gibt jedoch nicht zu, daß seine verfehlte Politik der Grund für die Degradation des Graslands ist. Statt dessen schiebt Peking den Nomaden des Hochlands die Schuld zu, nennt sie "rückständig" und "ignorant" und wirft ihnen vor, sie seien sich der Tragweite ihrer Handlungen nicht bewußt. Es ist ein Unding, daß die offizielle Politik denjenigen die Schuld gibt, die am unmittelbarsten und gravierendsten unter der fortschreitenden Erosion der Landschaft leiden.

Politische Konzepte, welche die Dynamik des Ökosystems im Grasland und die positive Rolle der Nomaden und Bauern ignorierten, hatten eine uninformierte und falsche Politik zur Folge, die letzten Endes der Viehwirtschaft mehr geschadet als genutzt hat.

Nomaden-Behausungen und eingezäunte Weiden © TIN
Grassteppen in Machu in der TAP Kanlho, Gansu © TIN

Urbanisierung und Zerstörung des Graslands

Das historisch gewachsene Muster mit einer weit gestreuten Bevölkerung, die als transhumante (mit ihren Herden wandernden) Hirten das Land großflächig nutzte, entsprach bestens den natürlichen Gegebenheiten des extrem kalten Hochlandes, dessen Vegetation sich vermutlich nie mehr erholt, wenn sie erst einmal zerstört ist. Das moderne Modell, in vorher unbekanntem Ausmaß Immigranten in Groß- und Kleinstädten geballt anzusiedeln, bedeutet für die Umgebung eine ungeheure und umweltschädigende Belastung. Nicht nur wird der natürliche Reichtum intensiv ausgebeutet, sondern die von den Städten und Ansiedlungen erzeugten Abwässer und sonstige Abfälle werden der Umwelt kaum geklärt oder behandelt wieder zugeführt.

Chinas langfristige Tibet-Politik legt enormen Wert auf Urbanisation und auf Transportkorridore, welche die städtischen Zentren miteinander verbinden. Es wurde jedoch kaum etwas investiert, um die Auswirkungen der Urbanisation abzumildern.

Heimahe am Kokonor - das Schwein im Müll ist ein sehr bildhafter Beweis für die Müllentsorgungsprobleme, © Dr Axel Gebauer

Der "China Human Development Report 2002" des UNDP macht deutlich, daß die Abwasserleitungen in der TAR und Amdo nur 0,3 % des Volumens der chinesischen Abwasserleitungen ausmachen, und die Gesamtmenge des aus den städtischen Zentren abgeführten Mülls beträgt lediglich 0,35 % von Chinas Gesamtmenge an Müll. Die Investitionen in Abwasserleitungen müßten mehr als verdoppelt werden, damit ein der Bevölkerungsdichte angemessenes Verhältnis entstehen würde.

Es ist eine Sache, ein städtisches Abwassersystem einzurichten, aber eine andere, die Abwässer angemessen zu klären, bevor sie wieder in die Flüsse eingeleitet werden. Derselbe UNDP-Bericht dokumentiert, daß 1999 die in den Städten der TAR und Amdo angesiedelten Fabriken 64,9 Millionen Tonnen Industrieabwässer im Jahr produzierten, von denen lediglich 28,7 Millionen Tonnen gemäß der in China geltenden Vorschriften geklärt wurden. Die daraus entstandene Wasserverschmutzung verschlechtert die Wasserqualität in den Flüssen, die nach Süd- und Südostasien fließen, genauso wie in China selbst.

Das chinesische Weißbuch von 2003 behauptet, daß die zwei größten Fabriken in Lhasa - sie stellen Bier und Schuhe her - mittlerweile den Abwasserbestimmungen nachkommen. Beide Fabriken wurden in den 90er Jahren erbaut und ihre zögernde Umsetzung der Verordnung hat sich sehr negativ auf den Kyichu, einen Zufluß des Yarlung Tsangpo, der weiter flußabwärts zum Brahmaputra (dem bedeutendsten Fluß von Bangladesh) wird, ausgewirkt. Das Weißbuch räumt ein, daß die Brauerei "einer der Haupt-Umweltverschmutzer" gewesen sei, und die Kläranlage der Schuhfabrik mit Hilfe der deutschen Regierung erstellt worden sei.

Heimahe am Kokonor - Chinesische Traktoren, © Dr Axel Gebauer

In Zentraltibet verfügt nur Lhasa über eine Abfallverwertungsanlage. Andere größere Städte wie Shigatse, Tsethang, Chamdo, Nagchu und Gyantse haben keine Möglichkeit, die Abfälle richtig zu entsorgen.

Moderne Städte benötigen Unmengen an Energie. Die Bevölkerung von Lhasa ist in den fünfzig Jahren unter chinesischer Herrschaft um das Fünfzehnfache gestiegen. Die Stadt erzeugt ihren Strom zur Zeit aus geothermischer Energie im Norden und aus Wasserkraft im Süden - aus dem heiligsten der tibetischen Seen, dem Yamdrok Tso. Die Tibeter sind aufgebracht darüber, daß an ihrem heiligen See Tunnel gegraben und Rohre verlegt, Turbinen und Hochspannungsmasten angebracht wurden, und daß das Wasser dieses von Bergen eingeschlossenen, hoch gelegenen Sees nun täglich mit dem des Yarlung Tsangpo unten ausgetauscht wird.

Die unzureichende Stromversorgung des Hochlands bedeutet, daß noch mehr Staudämme im großen Maßstab gebaut werden müssen. Bis sie fertiggestellt sind, ist man weiter auf die Kohle angewiesen, die per Lastwagen aus den weit von Lhasa entfernten tibetischen Kohlebergwerken herangekarrt werden muß. Der China Human Development Report des UNDP führt aus: "Die Menschen in Tibet leiden mit unter der höchsten Innenraumluftverschmutzung wegen des hohen Kohlenverbrauchs pro Haushalt".

Nicht aufbereiteter Abfall und Müll, der nicht eingesammelt wird, stellt nicht nur in städtischen Gebieten ein Problem dar. Sogar die heilige Pilgerstätte des Kang Rinpoche (Mt. Kailash) im äußersten Westen Tibets wird von dem Abfall, der von den Touristen achtlos zurückgelassen wird, verunstaltet, und die örtlichen Behörden ergreifen keinerlei Maßnahmen, um die Hinterlassenschaften der Pilger einzusammeln.

In einem der wichtigsten Berichte von 2002 über Entwicklungspläne für West-China, "The "2020 Project": Policy Support in the People's Republic of China" (im folgenden als "das 2020 Projekt" bezeichnet), der unter anderem von der staatlichen chinesischen Planungskommission und der Asiatischen Entwicklungsbank herausgegeben wurde, wird festgestellt:

"Die insbesondere in den letzten Jahrzehnten weiter fortschreitende Degradation der natürlichen Ressourcen der westlichen Region ist als schwerwiegend einzustufen. Sie ist vor allem auf den verstärkten Bevölkerungsdruck zurückzuführen, der zu vermehrter landwirtschaftlicher und städtischer Entwicklung führt, mit der dann wiederum Abholzung, Überweidung und die Beseitigung der natürlichen Vegetation einhergehen, gefolgt von Getreideanbau in steilem Terrain auf erosionsanfälligen Böden oder in Gegenden mit geringen Niederschlägen, was weit über das hinausgeht, was vertretbar ist. Stellenweise ist die Bevölkerungskonzentration am Mittellauf des Yarlung Tsangpo sehr hoch, und der Lebensunterhalt der Menschen ist infolge von Bevölkerungswachstum, Überweidung, heftigen Winden, unkontrolliertem Sammeln von Brennholz und den sandigen Boden nicht mehr garantiert."

Wie vom ""2020 Project"" weiterhin festgestellt wird, ist der Lebensunterhalt der tibetischen Bauern am stärksten gefährdet, denn um den mittleren Yarlung Tsangpo liegt die Kornkammer von Südwest-Tibet. Diese Region muß nun mittels intensiver Landwirtschaft den Nahrungsmittelbedarf der explosionsartig ansteigenden Immigrantenbevölkerung in den schnell wachsenden Städten zwischen Shigatse und Tsethang auf einer 300 km langen Strecke entlang der großen Wasserader Zentraltibets decken. Die plötzlich erforderliche Intensivierung der Getreideproduktion ist allerdings nur möglich durch intensive Verwendung chemischer Dünger und Pestizide, was wiederum zur Verunreinigung des Yarlung Tsangpo mit Chemikalien führt.

Das chinesische Weißbuch von 2003 räumt ein, daß es in dieser fruchtbaren Gegend zu viel an organischen Chlor-Verbindungen gebe, es spricht jedoch nur davon, daß man dem Problem jetzt nachgehen und es untersuchen werde, ohne irgendwelche Gegenmaßnahmen zu erwähnen. Den Aussagen chinesischer Experten widersprechend wird im Weißbuch von Tibet behauptet, daß die "meisten seiner größeren Flüsse und Seen immer noch in ihrem ursprünglichen Zustand" seien.

Fragwürdige Graslandpolitik

Die offizielle chinesische Antwort auf die Nachhaltigkeitskrise des Graslands hat fünf verschiedene Aspekte. Erstens stellte um 1980 herum China die Versuche der Kollektivierung der Nomaden ein: Land und Tiere wurden an die einzelnen Familien verteilt, wodurch sie die komplette Verantwortung dafür zurückerhielten. Aber diese Kehrtwende brachte auch eine Politik der Seßhaftmachung der Nomaden mit sich - diese mußten nun ihre Zelte gegen feste Behausungen auf Grundstücken austauschen, die von der Regierung an sie verpachtet wurden, außerdem hatten sie ihr Land einzuzäunen - was sie häufig in die Verschuldung trieb.

Die Umzäunung der Weidegründe führt zur Konzentration der Herden auf eng begrenzten Flächen und damit zu Überweidung und zu einer schweren Beeinträchtigung der gewohnheitsmäßigen Flexibilität und Mobilität der Nomaden. Doch hat man aus der fortschreitenden Degradation bisher keine Lehren gezogen, und immer noch liegt die Entscheidungsgewalt hinsichtlich des Lebensstils der Nomaden in den Händen der Chinesen. Dies wird in dem Weißbuch vom März recht deutlich, denn man brüstet sich damit: "Um die Qualität des Graslandes in den Weidegebieten zu verbessern, die nomadische Produktionsweise zu verändern, den Fortschritt zu beschleunigen und den Lebensstandard der Hirten zu steigern, wurden seit 2001 verschiedene Projekte zur Regeneration des Graslands und zum Siedlungsbau für nomadische Hirten in Angriff genommen."

Für das tibetische Weideland sind kurze Wachstumsperioden, wenig ergiebige Böden und das empfindliche Ökosystem typisch, weshalb die Nomaden im Laufe des Jahres mit ihren Herden zwischen Weiden in unterschiedlichen Höhenlagen hin- und herziehen müssen. Der China Human Development Report 2002 des UNDP beschreibt, welch ungeheure Umweltschäden durch die Seßhaftmachung der Nomaden angerichtet werden. Die Seßhaftmachung "war eine Regierungspolitik, die zum Ziel hatte, den Lebensstandard der nomadischen Hirten anzuheben. Kurzfristig betrachtet, haben seßhafte Viehhalter einen größeren Viehbestand – ein Zeichen von Wohlstand. Andererseits verschafft die bewegliche Viehwirtschaft dem Grasland die nötige Zeit zur Regeneration, obwohl es für die Hirten ein schweres Leben zu sein scheint. In der Inneren Mongolei und anderen zentralasiatischen Gebieten wird ersichtlich, welchen Schaden die seßhafte Viehwirtschaft für das Grasland bedeutet."

Zweitens wurde an der Landzuteilung seit mehr als zwei Jahrzehnten nichts geändert, obwohl sich die Nomadenfamilien inzwischen vergrößert haben. In einem Interview von 1999 gab Peng Liming vom Viehwirtschaftsamt Qinghai, das für die nordtibetischen Nomaden zuständig ist, zu, daß die Landzuteilung absichtlich so knapp gehalten wird, um den Nomaden Disziplin, also den Beginn der "Zivilisation", beizubringen. Derselbe hochrangige Kader aus Peking führte aus, daß junge tibetische Nomaden, die nach Heirat und Familiengründung nicht vom Ertrag ihres Bodens leben können, unweigerlich auf der Suche nach Arbeit in die chinesischen Städte gehen oder aber die Anzahl ihrer Kinder beschränken werden. Weiter sagte er, daß diese Politik mindestens fünfzig Jahre unverändert beibehalten würde.

Drittens haben die Chinesen eine energische chemische Vergiftungsaktion gestartet, um eine Tierart auszurotten, die in Wirklichkeit eine Schlüsselrolle für die Gesunderhaltung der Weideflächen spielt. Die Behörden halten weiterhin an der irrigen Überzeugung fest, die Degradation werde durch die "plateau pika", die Schwarzlippenpfeifhasen (Ochotona curzoniae) verursacht. Eine riesige Fläche von mehr als 208.000 km2 – größer als Irland, die Schweiz, die Niederlande und Belgien zusammen - wurde vergiftet. Die internationale wissenschaftliche Forschung in Sachen Tibet hat jedoch bewiesen, daß die Pfeifhasen keineswegs die Ursache der Degradation sind, im Gegenteil, durch ihr Buddeln belüften sie das Erdreich, und sie dienen außerdem als Beutetiere für einige jagende Spezies. In der wissenschaftlichen Terminologie werden sie als "Schlüssel-Spezies" bezeichnet. Die Behörden sind gleichwohl nicht willens, ihren Irrtum einzugestehen, d.h. die Ursache von der Wirkung zu unterscheiden.

Photo: www.tierpark-goerlitz.de/pfeifhas.htm

Viertens, sind die tibetischen Nomaden weiterhin arm; sie können kaum überleben unter der finanziellen Last der örtlich erhobenen Steuern und der zusätzlichen Abgabenzahlungen, die ihnen von den Verwaltungsbeamten aufgebürdet werden. Weil deren Gehälter nicht länger von Peking bezahlt werden, verlangen sie nun Pachtgebühren von den Nomaden und erfinden stets neue Einkommensquellen, um selbst leben zu können. Zu dieser Art der Einkommensbeschaffung gehört auch der den Nomaden abverlangte Verkauf ihrer Erzeugnisse zu unrealistischen Preisen.

Obwohl Peking eine derart willkürliche Erhebung von Abgaben offiziell verurteilt, bleibt den kommunalen Verwaltungen auf Grund der Politik des Laissez-faire reichlich Spielraum zur Ausbeutung der Bevölkerung. Darüber hinaus investiert China nicht in die Wiederherstellung des degradierten Weidelands, abgesehen von ein paar Gegenden, in denen die Nomaden dem China Council for International Cooperation on Environment and Development zufolge gezwungen wurden, Bankkredite aufzunehmen und sich noch weiter zu verschulden, damit sie die von weither angereisten chinesischen Vertragsarbeiter, welche die Weideflächen umpflügten und Grassamen säten, bezahlen konnten.

Fünftens, werden durch Chinas aktuelle Politik zur Regenerierung des Graslandes und der Wiederaufforstung die Nomaden aus ihren angestammten Gebieten vertrieben. Wo Berghänge betroffen sind, bezeichnet China diese Politik als "Berg-Sperrung". Einer der chinesischen Top-Planer, Zeng Peiyan, kündigte im Januar 2003 an, daß 67 Mio. ha des tibetischen Graslands in den nächsten fünf Jahren von jeglicher menschlichen Nutzung ausgenommen werden sollten. Diese Aussperrung der einheimischen Hirten mit ihrer intimen Kenntnis der Gegend und ihrer Erfahrung in der Bewirtschaftung des Graslands treibt die Tibeter unnötig in Not und Entfremdung. Eine solche Politik versäumt es, das Wissen der einheimischen Bevölkerung zu nutzen und mißachtet ihren Wunsch, das Grasland und seine Tierwelt nachhaltig zu erhalten.

Tatsächlich werden die Tibeter unter dem Vorzeichen der ökologischen Wiederherstellung immer weiter marginalisiert und von ihrem eigenen Land vertrieben. Chinas Weißbuch rühmt diese "Sperr-Politik", durch welche das Bergland "versiegelt wird, um die Wiederaufforstung zu erleichtern... In Verbindung mit dem Prinzip, die Zahl der Weidetiere nach der Größe des Weidelandes zu begrenzen, wurden ein turnusmäßiger Wechsel bei der Beweidung, der Weidegebiete und außerdem Gebiete eingeführt, die nicht beweidet werden". Daß der Staat Entscheidungen trifft, ohne die tatsächlich auf und von dem Land lebenden Menschen einzubeziehen, steht in völligem Widerspruch zur weltweit üblichen – bei Entwicklungsgesellschaften als New Rangeland Management bekannten – Praxis, welche die Mobilität und den Erfahrungsschatz der Hirten respektiert und sie unterstützt. Die FAO (UN Food and Agriculture Organisation) hat dargelegt, welche Rolle tibetische Nomaden- und Hirtengemeinschaften bei der Verhütung von Degradation, im Risikomanagement und der Sicherstellung der Nachhaltigkeit spielen könnten (http://www.fao.org/sd/2001/IN0601a/en.html). Der Stil der chinesischen Kolonialverwaltung bleibt jedenfalls nach wie vor der gleiche, von oben nach unten.

Der Bericht ""2020 Project"" empfiehlt klar und deutlich, die Stimmen der Nomaden als der eigentlichen Bewohner und Bewirtschafter des Landes zu hören und sie nicht von dem Entscheidungsprozeß auszuschließen. Er rät dazu:

"Das Graslandmanagement mittels administrativer Maßnahmen zur Steigerung des Ertrages hat entweder schlecht funktioniert oder war zu kostspielig. Die notwendigen Maßnahmen umfassen folgende Punkte: Überarbeitung des Graslandgesetzes von 1985 im Hinblick auf eine Stärkung der Position der Hirten und Dorfkomitees beim Graslandmanagement unter gleichzeitiger Reduzierung der Rolle der Regierung... weitere mögliche Maßnahmen wären: Klärung und Bestätigung der Eigentumsverhältnisse und der Nutznießung des Graslandes, sowie die Ausstellung von Eigentums- und Nutzerzertifikaten. Dies würde Bauern und Hirten die Möglichkeit verschaffen, Anteile zu erwerben, womit ihnen Landeigentum und Ertragsnutzung bescheinigt werden."

Die Aushöhlung der Rolle von Tibets Nomaden hat im Grasland zu einer Krise geführt, die ebenso schlimm ist wie die, der sich die tropischen Regenwälder gegenüber sehen. Die geballten Auswirkungen von Erosion, Einzäunen, Seßhaftmachung, Verschuldung, Armut, Besteuerung, großflächigem Einsatz von toxischen Unkrautvernichtungsmitteln, Verlust von Erdreich und dem Fehlen der grundlegenden sozialen Dienstleistungen bedrohen schlicht das Überleben der Nomaden. Einst wohlhabende Nomaden könnten sich – auf Grund von den ständig steigenden privat zu zahlenden Gesundheitskosten, den hohen Schulgebühren und der allgemeinen bitteren Armut – schon bald gezwungen sehen, in Städten und Siedlungen, wo Chinesen das Sagen haben, als Bettler ihr Dasein fristen zu müssen, oder als Fabrikarbeiter, falls irgend jemand sie anstellen sollte.

Eigenverantwortung der Nomaden: Die einzig sinnvolle Lösung

Um langsamen, nachhaltigen Fortschritt zu erreichen, ist eine nomadenfreundliche Politik dringend erforderlich, damit die Nomaden selbst über die Art und Weise ihres weiteren Lebensstils entscheiden können. Da die Viehzucht eine Subsistenzwirtschaft ist - die Umweltbedingungen, innerhalb derer die Nomaden operieren und von denen sie abhängen, sind marginal und besitzen kaum Intensivierungspotential - ist es von essentieller Bedeutung, daß der Staat nicht Auflagen macht, welche die Bedingungen vor Ort und das traditionelle Wissen der Nomaden unberücksichtigt lassen. Wir möchten für die künftige Planung der VR China folgendes empfehlen:

  • Die Zurücknahme der gegenwärtigen Politik der Einzäunung und Seßhaftmachung von Nomaden, und statt dessen Förderung der Beweglichkeit der Herden – was zur Vermeidung weiterer Umweltdegradation von grundlegender Bedeutung ist. Die mobile Viehhaltung ist nämlich die Basis der traditionellen Weidewirtschaft.

  • Die Förderung der wirtschaftlichen Diversifikation und die Verbesserung der Programme zur sozialen Entwicklung. Es sollten ausreichende Beschäftigungsmöglichkeiten für die landwirtschaftlich weniger intensive Jahreszeit geschaffen werden, bei denen die Nomaden ihre Erfahrungen einbringen können, damit sie, ohne sich von ihrem angestammten Umfeld wegbewegen zu müssen, einen gesicherten Lebensunterhalt haben.

  • Die Verminderung der Risiken für die nomadischen Haushalte durch die Legitimation von Gemeinschaftsbesitz und der gemeinschaftlichen Verwaltung der Weidegründe, damit alle gleichermaßen an den Ressourcen teilhaben.

  • Förderung und Entwicklung von gemeindebezogenem Ressourcenmanagement auf der Basis von gemeinsamer Weidewirtschaft, wobei die Gemeinden mit den Regierungsbehörden, Forschungsabteilungen und Verwaltungsämtern partnerschaftlich zusammenarbeiten können.

Nur wenn es auf die eigene Kraft der ländlichen Gemeinschaften setzt, kann China sein Ziel, nämlich die Steigerung des Lebensstandards der Nomaden und die Regeneration ihrer Weidegebiete, erreichen. Dies erfordert eine neue Herangehensweise, die das reiche und mannigfaltige Expertenwissen - von den Nomaden bis zu den Wissenschaftlern und Gestaltern der Politik - respektiert und nutzt. Aber solch ein Ansatz ist dem chinesischen Denken fremd, und er wird von den zentralen Planern in Peking erst dann akzeptiert werden, wenn sie sich für einen demokratischeren Ablauf in Forschung, Planung und Durchführung von Entwicklung öffnen.

Zäune trennen die Pferedeweiden in der TAP Yushu © TIN
Zwei Nomaden auf einem Haufen von Yak-Leichen © TIN

Teil 4

Erhaltung der Artenvielfalt: Politik und ihre Umsetzung

Pekings Weißbuch zu Ökologie und Umweltschutz in Tibet vom März 2003 weist lobend auf die 386 Mio. Yuan (48,2 Mio. US$) hin, die in den Jahren 1996-2003 für den ökologischen "Aufbau" der TAR ausgegeben wurden – in dieser Summe sind sogar die Kosten für Cashcrop-Baumpflanzungen und kommerziell genutzte Pappelanpflanzungen um Bewässerungsanlagen enthalten.

Was dabei jedoch verschwiegen wird, ist, daß Peking dem offiziellen Statistischen Jahrbuch der TAR zufolge zwischen 1996 und 2000 dieser Gelder in Höhe von 9,5 Mio. Yuan (1.19 Mrd. US$) für den Abbau von Bodenschätzen, den Bau von Autobahnen, Pipelines, Fabriken und Kraftwerken bereitgestellt hat, die samt und sonders der Umwelt abträglich sind. Also kommen auf jeden Yuan, den China angeblich für die "ökologische Verbesserung" ausgibt, weitere 30 Yuan für die Errichtung von Mega-Infrastrukturprojekten aus Peking, die unmittelbar zur Zerstörung der tibetischen Umwelt gereichen.

Zwischen 1996 und 2000 hat China höchstens 41 Yuan pro Jahr und Quadratkilometer der TAR für die Umwelt-Sanierung ausgegeben, jedoch 9,51 Mrd. Yuan (1,19 Mrd. US$) für die Finanzierung des "Kriegs", den es gegen die Natur führt.

Der Bericht ""2020 Project"" der Staatlichen Chinesischen Planungskommission und der Asian Development Bank beleuchtet die Unzulänglichkeit der für die Umwelt eingesetzten Mittel und die Verwirrung, welche die erstarrten, sich gegenseitig behindernden Bürokratien, die mit dieser Aufgabe befaßt sind, stiften. Der Bericht kommt zu dem Schluß:

"Ökologischer Fortschritt verlangt ein hohes Maß an Zusammenarbeit und Koordination mit anderen Stellen... Umweltagenturen können nicht feststellen, ob die Industrie sich an Grenzwerte für die Verschmutzung der Natur hält, deshalb können sie auch keine fundierte Entscheidung treffen, ob eine Industrieanlage geschlossen werden soll oder nicht. Daher kann die Allgemeinheit nicht zuverlässig über die Umweltbedingungen informiert werden... In der VR China hält man sich insgesamt nur sehr wenig an die Umweltrichtlinien...

Die Industrie in der westlichen Region ist derart strukturiert, daß sie gemessen an dem gesamten Produktionsvolumen mehr Umweltverschmutzung produziert als die der östlichen Region. Die Luftverschmutzung in der Westlichen Region liegt, bezogen auf das Produktionsvolumen, über dem Landesdurchschnitt... Was das Management der Naturreservate betrifft, so herrscht in der westlichen Region dringender Handlungsbedarf in den folgenden drei Bereichen: umfassende Berichterstattung, Kooperation zwischen den Verwaltungsbereichen und ausreichende Finanzierung.

Lutra Lutra - Fischotterfelle

Fischotterfelle in der Nähe des Kumbum-Klosters bei Xining.
Dort verkaufen v.a. chinesische Händler an die pilgernden Tibeter, aber auch an die massenhaft auftretenden Touristen Waren des täglichen Bedarfs, Kleidung, Andenken, Antiquitäten etc. Für die traditionelle tibetische Kleidung, den Lokbar (typischer Mantel der Tibeter, dessen unterer Rand mit Otter-, Gazellen- oder anderen Tierfellen besetzt wird), werden u.a. Fischotterfelle angeboten. Bisher war das für die Art kein Problem. Da aber inzwischen deren Lebensräume infolge der Verschmutzung und Verbauung der Flüsse und Seen stark in Mitleidenschaft gezogen wurden, wird es dem Fischotter in Tibet bald so ergehen, wie seinen Artgenossen in Westeuropa, wo die Art extrem selten wurde. © Dr Axel Gebauer

Die Naturschutzgebiete der westlichen Region erfassen nicht alles; nicht alle Spezies, Habitate und Ökosysteme sind angemessen vertreten. Viele der Reservate sind von ihrer Fläche her zu klein, um der Flora und Fauna einen zu ihrer Erhaltung ausreichenden Lebensraum zu bieten... Die unzugängliche Lage vieler Reservate, die ursprünglich dem Schutz der betreffenden Gegenden dienen sollte, führt zu ihrer Vernachlässigung, zu Mißmanagement und unweigerlich zur Degradation...

Buchstäblich alle Naturreservate werden unzureichend finanziert. Es gibt nur wenig Personal, und dieses ist häufig schlecht ausgebildet, unterbezahlt und unmotiviert; die Wartung der Fahrzeuge und der sonstigen Ausstattung ist mangelhaft. Um die magere Finanzierung wettzumachen, beuten die Leiter der Naturschutzgebiete gar noch die wenigen sich bietenden kommerziellen Möglichkeiten aus - oft mit sehr negativen Auswirkungen."

An der Basis gibt es in Tibet durchaus engagierte Mitarbeiter, sowohl Tibeter wie auch Chinesen, welche die noch existierende Artenvielfalt zu erhalten versuchen. Ihre Aufgabe wird durch die in viel zu viele Unterabteilungen aufgesplitterten Behörden, die ihre Funktion auf den engen Raum ihrer eigenen Verantwortlichkeit begrenzen und nicht zusammenarbeiten, zusätzlich erschwert. Obendrein werden mittels eines rigiden Personalzuteilungssystems unfähige Leute an abgelegene Orte geschickt, wo sie nur mit Widerwillen arbeiten.

In Tibet wäre es viel produktiver, wenn man mehr Tibeter als Nationalpark-Aufseher ausbilden und beschäftigen würde, denn sie sind besser motiviert, ihr eigenes Land zu schützen, und sie haben nichts dagegen, in rauhe, abgelegene Gegenden entsandt zu werden.

Ein Zitat des angesehenen Zoologen und Wildtierschützers Dr. George Schaller, der Mitte der 90er Jahre bahnbrechende Studien über die tibetische Tierwelt anstellte, straft Chinas engstirnige Ansicht über die "passive tibetische Anpassung an die Natur" in Tibet Lügen. So schreibt er in "Tibet's Hidden Wilderness: Wildlife and Nomads of the Chang Thang Reserve":

"Seit Urzeiten haben die Tibeter die Umgebung von Tempeln und spezielle den Berggöttern vorbehaltene Plätze zu Schutzgebieten für Wildtiere erklärt. Der Chang Thang Nationalpark ist ein natürlicher Tempel riesigen Ausmaßes, ein Monument für Tibets Vergangenheit, ein Heiligtum, in dem die Gläubigen Inspiration finden können...".

Vor der chinesischen Besetzung war das Jagen von Wildtieren in Tibet verpönt, und nur die Armen jagten, um zu überleben. Einige wenige Tibeter jagten Tiere, weil sie bestimmte Körperteile für ihre traditionelle Medizin benötigten. Jedoch wurde das Erlegen von Tieren immer auf nachhaltige Weise und in kleinstem Maßstab betrieben, denn es gab Gesetze dagegen. Im zehnten Monat eines jeden Jahres wurde im Namen seiner Heiligkeit des Dalai Lama ein Dekret (tsatsig) zum Schutz der Tiere und der Umwelt erlassen.

Marmota himalayana - Himalayamurmeltier, © Dr Axel Gebauer

Die Aufzeichnungen der europäischen Abenteurer des späten neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts berichten von dem ungeheuren Reichtum an wildlebenden Tieren auf dem tibetischen Plateau. Erst seit dem massiven Zustrom von chinesischen Migranten und Siedlern in bis dahin unberührte Gebiete im Gefolge der Entwicklungsprojekte ist ein alarmierender Rückgang des Bestands an Wildtieren festzustellen.

Die im Weißbuch aufgestellte Behauptung, in Tibet sei keine einzige Spezies ausgestorben, scheint der Wahrheit zu entsprechen. Jedoch sagt uns dieses Loblied nichts über den momentanen Stand der Artenvielfalt in Tibet. Der Bevölkerungszuwachs und die Entwicklungsprojekte der vergangenen Jahrzehnte sind die Hauptursache für den rasanten Rückgang des Wildreichtums auf dem Hochland. Die tibetische Antilope steht vor der Ausrottung; nur einer internationalen Protestwelle gegen den Handel von aus Shatoosh-Wolle gefertigten Schals ist es zu verdanken, daß die Jagd auf sie gedrosselt wurde. Den wilden Yaks steht ein ähnliches, wenn nicht noch schlimmeres Schicksal bevor. Heute sind mindestens 81 Spezies der tibetischen Säugetiere, Vögel, Reptilien und Amphibien gefährdet, und 125 Arten werden von der VR China auf Grund ihrer rapide abnehmenden Anzahl offiziell als schutzbedürftige Spezies geführt.

Die Chang Thang Region in der "TAR" wurde von China zum Naturschutzgebiet erklärt. Auch Chinas größte Flüsse, der Yangtse (tib: Drichu) und der Gelbe Fluß (tib: Machu), wurden in ihrem Quellgebiet in Tibet unter Schutz gestellt. Berichten des chinesischen Umweltschutzministeriums (SEPA) zufolge gab es in der "TAR" Ende 2000 siebzehn nationale und regionale Naturschutzgebiete, was ungefähr 40 % der Gesamtfläche aller Naturschutzgebiete in der VR China ausmacht.

Auf dem Papier sieht das zwar sehr eindrucksvoll aus, allerdings beträgt die im selben Bericht für 2000 angegebene Mitarbeiterzahl lediglich 163 Personen - die niedrigste von allen chinesischen Provinzen. Es ist offensichtlich, daß trotz der Kennzeichnung großer Flächen auf dem tibetischen Plateau als Naturschutzgebiete eine besorgniserregende Kluft zwischen offizieller Politik und den Möglichkeiten zu ihrer Umsetzung besteht.

Der Bericht "2020 Project" merkt an, daß China zwar im Jahr 1993 das globale Abkommen zur biologischen Artenvielfalt unterzeichnet hat, "der Fortschritt bei seiner Umsetzung aber bisher enttäuschend" gewesen sei. Weiter heißt es in dem Bericht, in der nordöstlichen tibetischen Provinz Amdo gebe es nur 50.000 km2 an Naturschutzgebieten, in der Provinz Sichuan - die zu 42 % als tibetisch ausgewiesen wird - sogar nur 28.300 km2: Das bedeutet lediglich 5 % der Gesamtfläche dieser beiden Provinzen.

Die von China eingerichteten Naturschutzgebiete, die sich zumeist in den kältesten und trockensten Gegenden des tibetischen Plateaus befinden, existieren sicherlich auf dem Papier. Und sie gehören zu dem, was in Chinas Weißbuch von 2003 als "ein relativ geordnetes und ortsbezogenes Umweltschutzsystem" bezeichnet wird. Die Chinesen schweigen sich jedoch darüber aus, ob die Gesetze und Verordnungen auch durchgeführt werden. Tatsächlich fehlt es aber in diesen Naturschutzgebieten - wie viele internationale Umweltexperten wie Dr. Schaller ausführlich dargelegt haben - an Rangern, ausgebildeten Mitarbeitern, Fahrzeugen und der notwendigen Befugnis, um Wilderern Einhalt zu gebieten.

Yaks am Kokonor - © Dr Axel Gebauer

Der Bericht "2020 Project" führt weiter aus:

"Die Erhaltung der noch vorhandenen einheimischen Vegetation und die Wiedergutmachung des bereits angerichteten Schadens sollten in der Western Region Priorität genießen. Das Programm weißt jedoch einige Schwächen auf. Die Naturschutzgebiete werden von verschiedenen Organisationen mit unterschiedlichen Interessen verwaltet, die ihre Aufmerksamkeit häufig nur einem einzelnen Aspekt zukommen lassen, ohne das Wissen oder die für das Management von integrierten Naturschutzgebieten notwendige Erfahrung zu besitzen. Von den 926 Naturschutzgebieten, die es 1997 gab, hatten 360 keine für sie zuständigen Verwaltungsämter und von diesen besaßen 308 wiederum kein effektives Management... Es gibt deutliche Anzeichen für einen Defizit bei der Behandlung der Naturschutzgebiete. Bedeutende Ökosysteme und Spezies erhalten keinen angemessenen Schutz, besonders in der Westlichen Region."

Einige landschaftlich eindrucksvolle Gebiete auf dem Hochland, wie Zitsa Degu in Osttibet (chin. Jiuzhaigou im heutigen Sichuan) erfreuen sich nicht nur des gesetzlichen Schutzes durch Peking, sondern werden auch auf der Liste des UNESCO-Weltnaturerbes geführt. Durch die Aufnahme von Zitsa Degu sollte eines der letzten Habitate der Riesenpandas unter Schutz gestellt werden. Dennoch wurde schon jahrelang keiner der gefährdeten Bären mehr gesehen. Überraschend ist das kaum, wo doch jährlich 1,5 Mio. chinesische Touristen Zitsa Degu besuchen, womit sie es Geschäftsleuten ermöglichen - zusätzlich zu dem Kapital, das der Titel "Weltnaturerbe der UNESCO" mit sich bringt - ungeheuren wirtschaftlichen Profit aus der großartigen tibetischen Landschaft und den Pandas zu schlagen. Von dieser Öko-Kommerzialisierung ist im chinesischen Weißbuch natürlich keine Rede.

Exotische, nicht endemische Spezies: Eine Bedrohung für den tibetischen Artenreichtum

Im "China Human Development Report 2002" der UNDP heißt es:

"Die chinesische Fauna und Flora ist außerordentlich vielfältig, dennoch ist die Biodiversität durch das Bevölkerungswachstum und die wirtschaftliche Entwicklung ernsthaft gefährdet. Als besonders bedrohlich erweisen sich von Menschen verursachte Vorgänge wie Abholzung, ungezügelte Ausbeutung der tierischen und pflanzlichen Ressourcen, Umweltverschmutzung und die Einführung invasiver, landesfremder Spezies. Abholzung und die unangemessene Nutzung von Land sind die beiden Hauptgründe für die Zerstörung von Biotopen in China."

Die bewußte Einführung exotischer Spezies gilt weltweit als eine Bedrohung der einheimischen Arten. Trotzdem stellt das chinesische Weißbuch diese Praxis als eine Errungenschaft für die Umwelt dar und behauptet, sie würde die Biodiversität fördern.

"Im Zuge von Tibets zunehmender Öffnung für die Außenwelt wurden nicht-endemische Nutztiere wie Karpfen, Karausche (carassius carassius), Aale und Schmerle, Hochleistungskühe, Schafe, Schweine, Hühner, Enten, sowie Nutzpflanzen wie Mais, Wassermelonen und Gemüse aus den innerchinesischen Gebieten nach Tibet eingeführt, wo sie inzwischen hervorragend gedeihen."

Langfristig betrachtet gedeihen diese fremden Arten auf Kosten der einheimischen Spezies, die durch die invasiven Exoten mittlerweile spürbar gefährdet sind. Viele tibetische Fischarten sind besonders davon betroffen, denn vor 1950 wurden sie überhaupt nicht zu kommerziellen Zwecken gefangen, heutzutage werden die größeren Seen des Plateaus durch kommerzielle Fangflotten überfischt, was fatale Folgen für den Fischbestand hat. Die chinesischen Zuwanderer essen Fisch, während Tibeter dies traditionell nicht tun.

Das chinesische Umweltweißbuch beschreibt die Einrichtung von Naturschutzgebieten als Mittel, die einzigartige Wildnis des Plateaus vor dem Vordringen nicht-endemischen Arten zu schützen. Im 21. Jahrhundert ist Peking anscheinend immer noch nicht in der Lage oder vielmehr nicht willens, den Unterschied zwischen Erhaltung der Biodiversität und ökonomischer Produktion zu erkennen.

Wildererbanden, die über high-tech Waffen und allradgetriebene Fahrzeuge verfügen, lassen sich weder von der Tatsache abschrecken, daß die tibetischen Naturschutzgebiete ausgedehnt, entlegen und unzugänglich sind, noch halten sie die äußerst unfreundlichen klimatischen Bedingungen davon ab, durch das weite, unbewohnte Land zu streifen und wertvolle Wildtiere abzuschlachten. Gegenwärtig wird der artenreiche Chang-Thang von der neuen Eisenbahnlinie nach Lhasa zerschnitten, und dank ihrer 23 Stationen haben Jäger und Schmuggler von tierischer Beute nun einfache Zugangsmöglichkeiten zum Verkehrsnetz. Mit der Einrichtung der Eisenbahnverbindung zwischen Tibet und dem chinesischen Binnenland wird es noch wichtiger, den örtlichen Naturschutzgebieten eine umfassendere und logistisch bessere Unterstützung zukommen zu lassen; vor allem ist es notwendig, effektivere Methoden zur Bekämpfung der Wilderei einzusetzen.

Durch die Vorgaben von adäquaten gesetzlichen Regelungen könnten die Naturschutzgebiete zu einer sicheren Zuflucht für Wildtiere werden - aber solche Vorgaben fehlen gegenwärtig völlig. Es ist dringend notwendig, Ranger zu schulen und einzustellen, und ihnen die notwendigen Befugnisse zu geben, damit sie den Gesetzen gegen die Wilderei der gefährdeten tibetischen Antilope sowie anderer seltener Wildtiere auch Geltung verschaffen können. Ortsansässige Tibeter sollten bevorzugt in der Verwaltung der Naturschutzgebiete ausgebildet und beschäftigt werden, denn sie kommen mit dem schwierigen Terrain zurecht und sind zudem besonders geeignet, weil ihre Religion und Kultur sie lehren, den Wildtieren und der Natur gegenüber im allgemeinen Respekt zu hegen und für sie zu sorgen.

Otocolubus manul - Manul, Pallaskatze,
ein natürlicher Feind der Pfleifhasen - © Dr Axel Gebauer

Schutz der Wildtiere und Jagdexpeditionen: eine Politik der Widersprüche

Eine am 20. Februar 2002 in People's Daily erschienen Reportage zum Thema "Hochlandjagd – eine neue Touristenattraktion" enthüllt, welch eine bedenkliche Kluft zwischen offizieller Politik und der täglichen Realität des Wildtierschutzes besteht.

"Die Internationalen Jagdgründe Dulan auf dem als das 'Dach der Welt' bekannten Tibet-Qinghai-Plateau sind in den vergangenen Jahren zu einer beliebten Touristenattraktion geworden... Mehr als 600 Jäger aus einem Dutzend verschiedener Länder wie den USA, Deutschland, Frankreich, Rußland und Norwegen besuchten sie bis Ende letzten Jahres... Das 30.000 km2 große Jagdgebiet liegt im Zentrum der Provinz Qinghai in Nordwestchina. Zu den einheimischen Tierarten gehören viele Paarhufer wie Bergziegen (cliff goats), tibetische Antilopen, Rotwild und Weißlippenhirsche (Cervus albirostris). Die Mehrheit der tibetischen Antilopen in diesem Gebiet ist zwischen 13 und 14 Jahre alt, und sie haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 15 Jahren... 'Der Schutz der Wildtiere in dieser Region ist ein wichtiges Unterfangen. Die Jäger werden gebeten, nur auf die alten und kranken Tiere zu schießen', sagte der Vize-Generalsekretär der Wildtierschutz-Vereinigung der Provinz Qinghai, Yang Hongwei, und fügte hinzu, das aus den Jagdgebühren erzielte Einkommen sei für Öffentlichkeitsarbeit und den Schutz der Tiere verwendet worden."

Bis Mitte der 90er Jahre ließen sich viele Touristen von dem Angebot für exklusive Jagdtouren und die Aussicht auf Trophäen oder sonstige Beute ins "exotische" Tibet locken. Obwohl der Staat nun allmählich erkennt, wie wichtig der Erhalt der Artenvielfalt ist, floriert der Jagdtourismus noch immer. Abgesehen von der eben genannten Jagdtour, für die in der Online-Ausgabe von People's Daily geworben wurde, gibt es noch weitere tourismus-orientierte Websites, auf denen Jagdtouren in Amdo und den benachbarten östlichen und nordöstlichen Provinzen Gansu, Xinjiang und Sichuan angeboten werden.

Bild auf Seite 8 des Prospekts der China Qinghai Tourist Corporation, Xining, Jagd-und Angelangebote, © Dr Axel Gebauer

Eine Suche im Internet ergibt verschiedene Anbieter und Gruppen, die Touren in die tibetische Hochsteppe anbieten, um dort gefährdete Tierarten wie Blauschafe, Argali, Takin, Steinböcke und Weißlippenhirsche zu jagen. Interessanterweise wurden erst vor kurzem die Stellen entdeckt, an denen die tibetischen Antilopen ihre Jungen zur Welt bringen. Dem führenden Experten für tibetische Fauna Dr. George Schaller zufolge ist der Erhalt dieser Plätze für das Überleben der tibetischen Antilope unbedingt erforderlich.

Die Chinesen behaupten, die Anzahl der Wildtiere, insbesondere der tibetischen Antilopen, sei im Steigen begriffen. Was die Glaubwürdigkeit dieser Statistiken angeht, sind jedoch zwei Punkte zu beachten: Erstens wurde erst im Jahr 2000 mit der Erforschung des Verhaltens der Populationen begonnen. Zweitens müssen diese längerfristig und großräumig beobachtet werden, da die Herden ausgedehnte Gebiete zwischen Xinjiang, Tibet und Gansu durchqueren – nur so können brauchbare Statistiken erstellt werden.

Wir begrüßen es, daß China sich dank der Durchsetzung neuer Verordnungen zum Schutze der Wildtiere und der Ratifizierung internationaler Gesetze zum Erhalt des Artenreichtums in Richtung auf den Schutz der Biodiversität bewegt. Die gegenwärtige Situation bleibt jedoch weit hinter echtem Artenschutz zurück. Wir hoffen, daß Peking seine Anstrengungen zur Stärkung aller aktiv am Erhalt der Artenvielfalt beteiligten Einrichtungen und Personen erhöht, damit auf diese Weise die offizielle chinesische Politik umgesetzt werden kann.

Teil 5

Ressourcenausbeutung: Zustand der Umwelt

Gemäß der chinesischen Verfassung sind alle Ressourcen Eigentum des Staates, und nur der Staat entscheidet über deren Abbau. Somit unterliegt die direkte Ausbeutung der Bodenschätze dem Staat und kann nur mit dessen aktiver Unterstützung bzw. Genehmigung vorgenommen werden.

Die Methoden, die für ihre Ausbeutung verwendet werden – ohne ordnungsgemäße Prüfung der sozialen und der Umweltfolgen - sind überaus bedenklich und geben Anlaß zur Sorge. Wegen der allgegenwärtigen Korruption innerhalb der Dienststellen und deren stillschweigende Duldung durch die Distriktsbehörden werden die natürlichen Ressourcen auf eine Art und Weise ausgebeutet, die überall auf dem Plateau irreversible Umweltschäden und der ortsansässigen Bevölkerung unnötige Härten verursacht.

Bis zum heutigen Tag ist die Durchsetzung der Vorschriften zum Umweltschutz nicht sichergestellt, und die Tibeter selbst haben kein Mitspracherecht und keinen Anteil an den Unternehmen, welche die Ressourcen abbauen. Unter dem gegenwärtigen System werden die Naturschätze Tibets von China als "nationaler Besitz" behandelt und in die Industriegebiete in Ostchina und den Küstenregionen geschafft, wo sie dringend benötigt werden. Die Tibeter profitieren davon nicht einmal am Rande, noch nicht einmal durch den trickle-down Effekt. Besorgniserregend ist außerdem die Anziehungskraft der Abbauindustrie auf chinesische Arbeitskräfte, die sie unmittelbar oder mittelbar beschäftigt, und deren Zustrom die ohnehin schon überbelastete Umwelt vor Ort weiter in unerträglichem Ausmaß strapaziert.

Von Peking aus gesehen verfügt Tibet über einen Überfluß an Natur-Kapital, das nur darauf wartet, in China kommerziell verwertet zu werden. Bodenschätze, Arzneikräuter, Wälder, Gletscher, Berge und Flüsse – alles soll im 21. Jahrhundert nach den von Peking veröffentlichten Plänen zur Intensivierung der kommerziellen Verwertung der Ressourcen aus den westlichen Regionen genutzt werden.

Ausbeutung der Wasser-Ressourcen: Langzeitfolgen

Obwohl die Nutzung des tibetischen Wasserreichtums eine Schlüsselkomponente des derzeitigen Western Development Program darstellt, berührt das Weißbuch von 2003 diese Thematik kaum. Der Grund dafür ist eindeutig: Die chinesischen Staudamm-Baupläne und die Wasserumleitungs-Programme - ebenso wie die grenzübergreifenden Planungen des Staates - bedrohen nämlich unmittelbar die Intaktheit des asiatischen Fluß-Systems, das vom tibetischen Plateau gespeist wird, und damit das Überleben von Millionen von diesem abhängiger Asiaten.

Bei mindestens zehn Flüssen, die ihren Ursprung in Tibet haben und dann in dichtbevölkerte Länder Asiens wie Pakistan, Indien, China, Nepal, Bangladesh, Myanmar, Thailand, Laos, Kambodscha und Vietnam weiterfließen, ist die Bewahrung der Ursprungsgebiete dieser Wasserwege von globaler Bedeutung.

Der mächtige Mekong, der in der osttibetischen Provinz Kham entspringt, wo er Zachu genannt wird, führt glaziales Schmelzwasser nach China, Myanmar, Laos, Thailand, Kambodscha und Vietnam. Aber China staut nun seinen Oberlauf mittels einer gigantischen 292 Meter hohen und 6 Milliarden US$ teuren Talsperre auf, die bis zu ihrer Fertigstellung 2013 die Umsiedlung von 38.640 Menschen erforderlich macht.

Der Xiaowan Staudamm, ein integraler Bestandteil des Western Development Program mit einer Kapazität von 4.200 MW, wird der Provinz Yunnan den Verkauf von Wasserkraft nach Thailand ermöglichen.

Chinas neues Energienetz für die Stromversorgung sieht den Bau von 14 neuen Staudämmen am Yangtse und am Mekong vor - zusätzlich zu den bereits vorhandenen über 22.000 Dämmen in der VR China.

Während Thailand von dieser Politik profitiert, hegen andere flußabwärts gelegene Länder berechtigte Befürchtungen. Diese kann Robert Tyson vom Smithsonian Tropical Research Institute in den USA nur bestätigen. Der führende Fischereiexperte warnt davor, daß "die chinesischen Staudämme für Wasserkraftwerke, die Kanalisierung der Flüsse und der übermäßige kommerzielle Schiffsverkehr den Tod der Flüsse bedeuten werden. Die Dämme werden eine Bedrohung für den Lebensunterhalt, den Grund und Boden und das Leben in allen flußabwärts gelegenen Ländern sein". Der Vorsitzende von Green Watershed, einer chinesischen NGO, betont, daß China seine massiven Staudammprojekte ohne vorhergehende Konsultation der Nachbarstaaten oder Bewertung der weiter flußabwärts zu erwartenden Auswirkungen gestartet hat. "Bei einem Fluß, der mehrere Länder durchquert, sollte ein Land nicht nur an sich denken", meinte Xu Xiaogang, ein chinesischer Akademiker und Umweltaktivist.

Die Ängste der Tibeter unterscheiden sich natürlich von denen der Mekong abwärts gelegenen Länder. Geologen ist der Kupfer- und Goldreichtum in Südosttibet ebenso bekannt wie ein umfangreiches Zinkvorkommen nördlich des Xiaowan-Dammes. Die in Tibet abgebauten Erze und Mineralien könnten so künftig auf dem Wasserwege bis zu der von der Asian Development Bank finanzierten Bahnlinie in Lijiang an Tibets südöstlicher Grenze transportiert werden.

Aber vielleicht ist es die ökologische und für das Auge sichtbare Zerstörung einer Region von geradezu legendärer Schönheit, welche für die Tibeter am schmerzlichsten ist. Der 21 Mio. US$ teure Staudamm, der am 21 km von Dartsedo (chin: Kangding) entfernten Megoe-See (chin: Mugecuo) geplant ist - der traditionellen tibetischen Grenze zu China vor 1949 - wird ein Schandfleck für Khams berühmtesten und heiligsten See werden. Der See, der zugleich ein wichtiger Pilgerort ist, liegt in einer 4.000 m hohen Gebirgslandschaft und ist von über 30 kleineren Seen umgeben. Er zieht auch viele Ökologen, Botaniker, Geologen und Landschaftsfotografen an, denn er stellt ein einzigartiges Beispiel für die ursprüngliche ökologische Reinheit Tibets dar, deren sich Peking in seinem jüngsten Weißbuch mit Stolz rühmt. Aber gleichzeitig plant es, all dies zu zerstören.

Die legendäre Schönheit des Mugetso oder Megoe Tso
© River Watch East and Southeast Asia, www.rwesa.org

Das tibetische Plateau ist an und für sich schon von großer Bedeutung, denn dank seiner geologischen Besonderheit weist es diverse Ökosysteme auf. Die Quellgebiete der Flüsse beherbergen ein viel reichhaltigeres Pflanzen- und Tierleben als andere Einzugsgebiete. Im chinesischen Weißbuch heißt es zu den tibetischen Feuchtgebieten: "Die Autonome Region Tibet hat über sechs Millionen ha Feuchtgebiete, womit sie an erster Stelle in China steht". Unerwähnt bleiben allerdings die derzeitigen Pläne der VR China für ein großangelegtes Nord-Süd-Wasserumleitungsprojekt, das die in der Zoige-Region (chin: Ruergai) in Amdo an der großen Flußschleife des Machu (chin: Huang Ho, Gelber Fluß) um das Amnye Machen Gebirge gelegenen Feuchtgebiete zerstören könnte.

Obwohl das Weißbuch einen Abschnitt enthält, der besagt: "Neue Bau-, Wiederaufbau- und Ausbauprojekte werden nur dann genehmigt, wenn eine Einschätzung der aus ihnen resultierenden Umweltveränderungen durchgeführt wurde", ist es Tatsache, daß der westliche Abschnitt des geplanten Süd-Nord-Wassertransferprojekts genehmigt wurde, ohne daß eine derartige Studie durchgeführt worden wäre. Die Vorbereitungsarbeiten für das Projekt sind bereits angelaufen, und der Baubeginn für die maßgebliche Infrastruktur ist für 2010 angesetzt.

Das Projekt beinhaltet den Bau von mindestens drei Mega-Staudämmen sowie die Sprengung einer Reihe von Tunnels mit Hunderten von Kilometern an Kanälen, die durch das östliche tibetische Plateau und verschiedene Gebirgszüge verlaufen, um den Oberlauf des Yangtse in den im Austrocknen begriffenen und überlasteten Gelben Fluß in Nordchina umzuleiten. Nach ihrer Fertigstellung sollen die Kanäle den chinesischen Nordostprovinzen mit ihrem steigenden Wasserbedarf jährlich bis zu 20 Mrd. Kubikmeter Wasser zuführen. Der Gewinn für Tibet ist gleich Null. Die Kosten dafür aber sind: die Störung der Flußhydrologie und die Zerstörung der ursprünglichen Ökosysteme durch die riesigen Baustellen zur Erstellung der massiven Dämme und die zahllosen Sprengungen für den Tunnelbau durch die Bayan Ha-Berge; weiterhin werden die in der Nähe der Baustellen lebenden Menschen in ihrer traditionellen Lebensweise gestört, und ihre tibetische Identität wird durch den enormen Zustrom chinesischer Arbeiter ausgelöscht werden.

Kritiker halten die Entstehung eines "chinesischen Wasserindustrie-Komplexes" für sehr wahrscheinlich, womit kein Ende der gigantischen, sich um das Wasser drehenden Bauvorhaben in Sicht ist, die in erster Linie die wirtschaftlichen, ideologischen und bürokratischen Interessen der chinesischen Führung fördern, anstatt dem Wohl der Bevölkerung oder der Umwelt zu dienen. Pekings offizielle Wasser-Entwicklungspolitik orientiert sich ausschließlich an der technologischen Position der Verfügbarkeit von Wasser und seinem Management, weshalb wasserbauliche Maßnahmen nur im Kontext von Wirtschaftswachstum und Nationalstolz gesehen werden.

International wirft Chinas Weigerung, sich an der "UN-Convention on the Law of the non-navigational uses of international watercourses" (UN-Konvention über das Recht der nicht-schiffahrtlichen Nutzung internationaler Flußgebiete) von 1997 zu beteiligen, ein deutliches Licht auf die rücksichtslose Praxis der Chinesen, große Entwicklungsprojekte an den Oberläufen landesübergreifender Flüsse wie dem Mekong zu realisieren, ohne die betroffenen Nachbarländer zu konsultieren.

Manwan Staudamm am Lancang River (Oberlauf des Mekong) in der Provinz YunnanBilder von
River Watch East and Southeast Asia, www.rwesa.org/lancang

Abholzung

Im China Human Development Report 2002 des UNDP heißt es "In China ist wahrscheinlich nur noch ein äußerst geringer Bestand an ausgewachsenen Bäumen übrig. Sowohl im Nordosten (Mandschurei) als auch im Südwesten (Tibet) büßt China Wälder von hoher Qualität ein, während gleichzeitig in anderen Teilen des Landes Bäume angepflanzt werden, die jedoch anderen Zwecken dienen."

Entsprechend ihrem immer noch gültigen Quotensystem holzen staatseigene Unternehmen weiterhin die alten tibetischen Waldbestände radikal ab, wobei sie eine große Anzahl nicht-tibetischer Arbeitskräfte beschäftigen. Das Holz wird per LKW oder auf dem Wasserweg nach China abtransportiert. Dort verkaufen die staatseigenen Unternehmen die tibetischen Holzbestände zu niedrigen, offiziell festgesetzten Preisen an andere staatliche Firmen, die Eisenbahnschwellen, Stützpfeiler für Bergwerke oder Balken für die Bauindustrie herstellen.

1987 stand in einer chinesischen Publikation, daß die gefällten Bäume aus einer einzigen tibetischen Präfektur - nämlich Kanlho in der Provinz Gansu - zweimal den Erdball umspannen würden, wenn man sie hintereinander auslegen würde. Im chinesischen Weißbuch, das sich auf die sogenannte "Autonome Region Tibet" (TAR) beschränkt und so verschweigt, daß die Hälfte der tibetischen Gebiete in Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan liegen, findet sich nichts über diese ökologische Verwüstung des tibetischen Hochplateaus. Doch die himmelschreiendsten Fälle von Abholzung mit nachfolgender Bodenerosion geschahen gerade in den Gegenden Osttibets, die heute außerhalb der TAR liegen und Bestandteile der genannten chinesischen Provinzen sind.

Die großflächige Entwaldung Tibets hat auch nachteilige Folgen für die Wildtiere, deren Habitate zerstört und die durch die noch nie dagewesene Anwesenheit von Menschen beeinträchtigt werden. Diese hat wiederum Wilderei zur Folge: mit dem Zweck der Fleischbeschaffung, wegen der Felle und Häute und dem Verkauf der Organe der Tiere auf dem lukrativen Markt für chinesische Medizin. Die verheerenden Nebeneffekte der Abholzung auf die Tierwelt sind gut dokumentiert; es gibt hierzu viele Veröffentlichungen internationaler Experten und NGOs.

In einer langen LKW-Kette wird Holz nach China transportiert © TIN

Abholzungsverbot: Ein positiver Schritt, aber ist er effektiv?

1998 verkündete China ein landesweites Abholzungsverbot, ein willkommener Schritt, der mit dem Versprechen einherging, die kahlen Hänge der tibetischen Flußtäler, deren Wasservorräte das chinesische Binnenland und den größten Teil von Asien und Südostasien speisen, wieder aufzuforsten.

1998 schöpften die Tibeter ein wenig Hoffnung, bei der Wiederaufforstung eine aktive Rolle spielen und an der Wiederherstellung des natürlichen Gleichgewichts mitwirken zu können. Es sind nunmehr fünf Jahre vergangen, seit Peking den Provinz- und lokalen Behörden, deren Einkünfte von den Holzunternehmen abhängen, ein Abholzungsverbot verkündet hat. Fünf Jahre ist es her, daß sich China endlich zwischen dem lukrativen Geschäft mit dem tibetischen Holz und dem Gewässerschutz entscheiden mußte. Vorher galt beides als frei verfügbares natürliches Kapital in Tibet.

Die katastrophalen Überschwemmungen des Yangtse im Jahr 1998 zwangen China zum Handeln. China entschloß sich vernünftigerweise dazu, das Wasser als das wertvollere Gut zu betrachten – auf Grund dieser politischen Entscheidung müssen die Gebiete um die Oberläufe der Flüsse wieder aufgeforstet werden, damit es zu keinen weiteren Überschwemmungs- und Dürrekatastrophen in China kommt.

Dem China Human Development Report 2002 zufolge hat China mit dem Abholzungsverbot das Problem auf Nachbarländer verlagert, die keine adäquaten Mechanismen zur Durchsetzung von gesetzlichen Richtlinien haben. Dennoch haben wir Grund zu der Annahme, daß vor allem in den östlichen Regionen Tibets weiterhin illegal abgeholzt wird. Wie wir von Augenzeugen erfahren haben, ist es heutzutage lediglich teurer geworden, von bestechlichen Kommunalbeamten eine Abholzungsgenehmigung zu erhalten. Das steigert die Kosten für das Holz, welches so zu einem Luxusgut wird, das immer mehr illegale Geschäftemacher in die tibetische Region zieht.

Berichte des US-Landwirtschaftministeriums, welches die Lage vor Ort verfolgt, werden durch die Aussagen von Flüchtlingen im Exil bestätigt, die von anhaltender Abholzung sprechen. Im China Human Development Report 2002 der UNDP heißt es: "Die Manager der staatseigenen Wälder haben die Aufgabe, zwei widersprüchliche Zwecke zu vereinen: einerseits sollen sie Profite machen, andererseits müssen sie eine immense Anzahl von Arbeitskräften beschäftigen. Daraus ergeben sich für sie starke Anreize, ihre Produkte auf dem schwarzen Markt zu verkaufen."

2002 wurden in der Nähe von Markham in Südosttibet heimlich Videoaufnahmen gemacht, die belegen, daß auch nach dem Erlaß des Abholzungsverbots weiterhin Bäume gefällt wurden. Anhand der Filme kann man die Anwendung einer neuen Taktik zur Umgehung des Abholzungsverbots genau verfolgen. Im Spätfrühling werden Berghänge mit altem Kiefernbestand in Brand gesetzt, wodurch die Nadeln zerstört werden, die Baumstämme jedoch weitgehend intakt bleiben. Die geschwärzten Stämme sind offiziell wertlos, weshalb sie gefällt werden dürfen. Diese Vorgehensweise ist weit verbreitet und bindet die Arbeitskraft von mehreren hundert Arbeitern, welche nicht nur Bäume fällen und sie zur Weiterverarbeitung in Sägewerke transportieren, sondern auch mit Bulldozern Zugangswege schaffen.

Das Filmmaterial zeigt quadratisch zugeschnittene Baumstämme, was darauf schließen läßt, daß eine transportable Motorsäge herbeigeschafft wurde – eine Maschinerie, über die ausschließlich die staatliche Forstverwaltung verfügt. Nach dem zumeist nachts hastig durchgeführten Abtransport des Holzes ist der Boden mit minderwertigen Stämmen, Rinde, Zweigen und einem Gewirr an Holzrückständen übersät.

Die dünnen angekohlten Stämme von Bäumen, die für die kommerzielle Nutzung zu klein sind, werden stehen gelassen, aber trotzdem ist den ortsansässigen Tibetern das Säubern der Hänge und die Nutzung der Holzabfälle untersagt. Es werden auch keine tibetischen Holzarbeiter beschäftigt, sondern nur zugewanderte Chinesen. Der Umfang dieser Machenschaften und die Methoden, mit denen vorgegangen wird, lassen darauf schließen, daß so etwas ohne die Kenntnis offizieller Stellen nicht stattfinden könnte.

Die Videoaufnahmen zeigen die Erosion weiter Flächen und Steilrinnen, die durch den katastrophalen Verlust der alten Waldbedeckung entstanden sind. Die einzigen Gebiete, wo ein Ansatz zur Wiederaufforstung gemacht wurde, liegen entlang der hauptsächlich von ausländischen Touristen befahrenen Routen.

Das Versengen eines Waldes, der nicht von Natur aus leicht zum Brennen neigt und der in kein Gefährdungsprogramm (fire regime) einbezogen ist, schadet der Regeneration ganz besonders; es kommt noch hinzu, daß das Anzünden im späten Frühjahr vielen Tieren samt ihren Jungen das Leben kostet. Andere Wildtiere geraten in die von den zugewanderten Arbeitern aufgestellten Stahlfallen. Außerdem ist der Lebensunterhalt der in der Nähe ansässigen Tibeter, die sich durch den Verkauf von im Wald gesammelten Pilzen an den internationalen Shiitake-Markt (Lentinula edodes) etwas Geld verdienen konnten, ernsthaft bedroht.

Die Region um Markham liegt im äußersten östlichen Winkel der TAR und ist weit von Lhasa entfernt. Es scheint, daß das dortige Forstamt geschlossen wurde, als die Abholzung offiziell im Jahr 1998 eingestellt wurde, weshalb es dort heute keine staatliche Forstverwaltung gibt.

Aussaat aus der Luft und "Bergsperrung": Ungeeignete Wiederaufforstungs-Massnahmen

Das im Anschluß an die Überschwemmungen des Yangtse von 1998 sogleich von China erlassene Abholzungsverbot war ein klares Signal dafür, daß man die Abholzung als Hauptursache für die Katastrophe erkannt hatte. Es besteht kein Zweifel, daß die Abholzung zum Anstieg der Sedimente in den Flüssen und zum Verlust von Speicherkapazitäten in den Quellgebieten der Flüsse führt. Entwaldung kann ebenfalls den Lauf der Flüsse verändern und Überschwemmungen hervorrufen. Gerade in der VR China gibt es jedoch noch zwei weitere Faktoren, die Überschwemmungen auslösen können – der Verlust von Feuchtgebieten und Flußbau bzw. Flußbegradigungen in den tiefer gelegenen Gegenden sind typisch für sie.

Gegenwärtig investiert China zur Vermeidung künftiger Überschwemmungen ausschließlich in die Wiederaufforstung. Für die tibetischen Wälder war das Abholzungsverbot ein etwas fragwürdiger Segen. Entscheidend ist dabei, wie die Wiederaufforstung in den tibetischen Gebieten umgesetzt wird. Die Wiederaufforstung ist die offizielle Politik. Berichten chinesischer Ökologen von der Sichuan Forstakademie aus dem Jahr 2001 zufolge wird sie aber so durchgeführt, daß die tibetischen Gemeinwesen dabei weder irgendwelche Vorteile haben, noch in die eigentlichen Wiederaufforstungsmaßnahmen einbezogen werden. Für Tibeter gibt es dabei weder Entschädigungen noch Arbeitsplätze.

Eine Fläche von Millionen ha ist von der gegenwärtig propagierten "Gebirgssperrung" betroffen - das ist ein Drittel des westlichen, hoch auf dem tibetischen Plateau gelegenen Teils der Provinz Sichuan. Die von China gewöhnlich angewandte Methode besteht darin, Saatgut aus Flugzeugen abzuwerfen. Das ist nicht nur ineffektiv, sondern schließt die tibetischen Gemeinden von jeglicher Beteiligung an der ökologischen Forstwirtschaft aus. Ohne das enorme Ausmaß der Entwaldung zuzugeben, werden in Pekings Weißbuch Methoden zur Wiederaufforstung Tibets vorgestellt, die samt und sonders die aktive Beteiligung der Tibeter ausschließen. Das Papier lobt die Bemühungen: "In Tibet wurden Maßnahmen zur Wiederaufforstung ergriffen, das heißt, es wurde Saatgut mit Flugzeugen verteilt und die Berghänge wurden gesperrt, um die Wiederaufforstung zu erleichtern".

Chinas eigenen Statistiken zufolge wird die Wiederaufforstung frühestens in 50 Jahren erste Resultate zeitigen. Die Zerstörung dieser Wälder begann bereits in den 50er Jahren, und die Erosion der steilen, kahlen Hänge hat sich seither ständig verschlimmert.

In den einst bewaldeten Gegenden gehen die Entschädigungen aus Peking ausschließlich an chinesische Firmen und örtliche Behörden, damit den in der staatlichen Holzindustrie beschäftigten Nicht-Tibetern weiterhin ihre Gehälter bezahlt werden können. Das wird von Studien chinesischer Wissenschaftler belegt, die von dem "Chinesischen Rat für Internationale Zusammenarbeit in Umwelt- und Entwicklungsfragen" unter dem Vorsitz des neuen chinesischen Premierministers Wen Jiabao in Auftrag gegeben wurden.

Der gemeinsame Bericht der Staatlichen Entwicklungsplanungskommission und der Asian Development Bank von 2002 besagt, daß gemäß dem gegenwärtigen Plan der staatlichen Forstverwaltung "die Wiederherstellung des verwüsteten Landes mehr als 50 Jahre in Anspruch nehmen wird. Die Anpflanzungsquote muß erhöht werden, vor allem dort, wo die Erosion weiterhin kostspielige Schäden anrichtet".

Einem anderen Aspekt der neuen Wiederaufforstungspolitik - der Umwandlung von Grünflächen zu Getreideanbaugebieten und der von bebautem Land zu Grasland und Wald - sind wiederum die tibetischen Bauern und Nomaden zum Opfer gefallen. Auf Grund der Höhenlage und der harten klimatischen Bedingungen des Hochplateaus ist die Abholzung von Wäldern meistens irreversibel, und folglich stellt die Wiederaufforstung eine enorme Herausforderung dar. Heute wird sogar in Gebieten wiederaufgeforstet, die früher nicht bewaldet waren und die entweder zum Ackerbau oder als Weideflächen genutzt wurden. Logischerweise sollte jedoch in erster Linie in denjenigen Gegenden aufgeforstet werden, die in den vergangenen vier Jahrzehnten entwaldet wurden.

Zur Zeit scheint sich die Wiederaufforstung offenbar auf die fruchtbaren tiefer gelegenen Täler, in denen das Überleben der Pflanzen und Setzlinge gesichert ist, zu konzentrieren. Damit wird ein enormer Druck auf die tibetischen Bauern und Nomaden ausgeübt: Sie sollen die Wiederaufforstung und Umwandlung ihres landwirtschaftlich genutzten Bodens und Graslands akzeptieren, sie gar noch willkommen heißen, obwohl sie am Ende ihres Grund und Bodens beraubt werden. Das China-Tibet Information Centre in Lhasa brachte kürzlich Berichte über die im Rahmen der Wiederaufforstung am Oberlauf des Yangtse durchgeführte Umsiedlung von Tibetern aus dem Distrikt Gonjo in Kham in andere tibetische Gebiete in der Präfektur Nyingtri. Eine solche Umsiedlungsmaßnahme nimmt den tibetischen Bauern ihre Heimat und entzieht ihnen die Grundlage zum Erwerb ihres Lebensunterhalts.

Einhergehend mit dem Wiederaufforstungsprogramm werden die Bauern und Nomaden zum Anbau schnell wachsender Sträucher und anderer Spezies gezwungen. Es existieren jedoch keine Langzeitstudien über die Auswirkungen dieser neuen Arten auf die Umwelt, noch über die Bedrohung des Lebensunterhalts der Bauern und Nomaden, für welche diese eingeführten Spezies weder als Nahrung noch als Viehfutter irgendeinen Nutzen haben. Der Staat verspricht den Betroffenen, ihnen einige Jahre mit Getreide und Subventionen zu helfen, aber danach sind sie auf sich selbst gestellt.

Umwidmung von Gemeindeland: ein Vehikel für die Ansiedlung von Chinesen

Die VR China hat eine spezielle Politik zur Förderung der nachhaltigen Nutzung der Böden entwickelt. Dieses neue Werk bürokratischer Feinabstimmung schlägt vor, "die traditionelle und vererbliche Praxis, daß, wer immer das Land beansprucht, es auch bearbeiten und den daraus hervorgehenden Nutzen abschöpfen darf", einzuführen. Die neue Richtlinie bezieht sich auf "die Pflanzung von Bäumen und Gras auf kahlen Hügeln, Berghängen und an Stränden". Tibet als ein unfruchtbares Ödland, das entwickelt und erobert werden muß, zu sehen, ist eine klassische kolonialistische Betrachtungsweise. Es gibt bereits Fälle, in denen nicht zu der Gemeinde gehörende Personen Gemeindeland, welches die tibetischen Bauern üblicherweise als Weideland für ihr Vieh nutzen, zu Entwicklungszwecken reklamierten.

Kokonor - Heimahe, Chinesische Zuwanderer © Dr Axel Gebauer

Kürzlich durchgeführte Interviews mit Flüchtlingen aus der TAR enthüllen, welchen Problemen die tibetischen Bauern auf der Suche nach Weideland heute gegenüberstehen. Chinas Programme zur Wiederaufforstung und Kultivierung von Land könnten den Tibetern langfristig durchaus nützen – vorausgesetzt diese verlieren nicht ihre Rechte auf das Land und erhalten volle permanente Handlungsvollmacht als Verwalter der Wälder. Doch damit die Tibeter ihre Nutzungspraktiken für Böden und Wälder anpassen können, müssen sie auch an die Vorteile der Programme zum Schutz der Wälder glauben.

Das Mindeste, was die Tibeter von diesen Maßnahmen haben sollten, wäre also ein verbürgtes Nutzungsrecht für ihre eigenen Holzressourcen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Des weiteren müßten ihnen aber auch unmittelbare Vorteile aus Pekings Programm zur Wiederaufforstung der riesigen, von den früheren kommunistischen Machthabern verwüsteten Landstriche Tibets erwachsen.

Bergbauindustrie: Marginalisierung der Tibeter

Durch die Zukunftsplanungen der VR China wird immens viel Kapital in die groß angelegten Infrastrukturprojekte investiert: um in Tibet Erdgas zu fördern, Kupfer und Chrom abzubauen und die Ausnutzung der tibetischen Salzseen zu intensivieren, aus denen China Rohstoffe zur Fabrikation von Kunststoff, Kunstdünger und für die Aufbereitung von Magnesium gewinnt. In China selbst besteht große Nachfrage nach Chrom. Der Manager von General Motors, der auch Mitglied des chinesischen Nationalkongresses ist, sagt voraus, daß innerhalb der nächsten 10 Jahre 500 Millionen Chinesen ein Auto für ihre Familien kaufen werden (People's Daily, 12. März 2003). Sollte sich dieses Konsumdenken durchsetzen, wird der chinesische Chrom-Bedarf dramatisch ansteigen und die weltweite Belastung durch Treibhausgase immens in die Höhe treiben.

Viele an China angrenzende Regionen des tibetischen Hochplateaus sind bereits hochindustrialisiert, wobei wenig Wert auf die Kontrolle der Umweltverschmutzung gelegt wird. In dem ariden Tsaidam-Becken im äußersten Nordosten Tibets werden aus den Ölfeldern jährlich zwei Millionen Tonnen Rohöl gefördert und zu den nahegelegenen petrochemischen Raffinerien gepumpt. Asbestabbau, Aluminiumhütten sowie Eisen- und Zinnbergbau expandieren dank der Protektion der Zentralregierung. Die Tibeter sind nicht in der Lage, die Installation von Geräten zur Kontrolle des Schadstoffausstoßes zu fordern, denn die Fabriken gehören denselben Leuten, die angeblich für den Umweltschutz zuständig sind, oder sie werden von ihnen geführt.

Kokonor - Heimahe - Bau einer Pipeline, © Dr. Axel Gebauer

Chinas laufender Fünfjahresplan ebenso wie auch das ""2020 Project"" sehen beide die weitere Ausbeutung der tibetischen Bodenschätze sowie massive staatliche Investitionen in Transport- und urbane Infrastrukturen vor, die notwendig sind, um diese Ressourcen effektiv erschließen und befördern zu können. Daß die tibetischen Gemeinwesen hierbei machtlos zusehen müssen, zeigt sich deutlich am Beispiel der Tongren Aluminiumhütte im landwirtschaftlich genutzten Tal des Rongwo Chu, das sich im Norden an Rebkong (chin: Tongren) in Amdo anschließt. Wegen des vollständigen Mangels an Geräten zur Kontrolle des Schadstoffausstoßes quillt toxischer, fluoridhaltiger Rauch aus den Schornsteinen der Hütte und verursacht Fluorosis, welche beim Vieh wegen des kontaminierten Grases und der mageren Getreideernte, insbesondere bei Schafen, zu Zahnausfall und zu Wachstumsstörungen führt. Alle an die Behörden gerichteten Appelle verhallten bisher ohne Reaktion. Die Hütte befindet sich im Besitz des Distrikts Tongren, und aus den Einkünften der Aluminiumherstellung werden die Gehälter der örtlichen Verwaltungsangestellten bestritten.

Ein 1996 von der US-Botschaft in Peking veröffentlichter Bericht über den unrechtmäßigen Goldabbau in China ö der sich insbesondere mit der tibetischen Provinz Amdo befaßt - hegt den Verdacht, daß die örtlichen Behörden mit den illegalen Goldschürfern, die im weitläufigen und unkontrollierten, fruchtbaren Grasland von Amdo und Kham operieren, unter einer Decke stecken. Mit ihren Bergbaumethoden verwüsten sie das Grasland und machen einen künftigen Abbau unprofitabel, weil sie nur kurzfristig ausgerichtete und äußerst destruktive Techniken verwenden. Die Nomaden der Region sind machtlos, die ökologisch verheerenden Übergriffe auf ihr traditionelles Weideland zu verhindern.

Trotz der Einführung einiger positiver Umweltgesetze sind Chinas Kapazitäten zur Durchsetzung dieser Gesetze nicht ausreichend; es mangelt an Personal und an der richtigen Motivation. Diese Situation verschlimmert sich noch dadurch, daß es keine Koordination zwischen den einzelnen Ministerien gibt.

Die Eisenbahn: Der Weg zur Ausbeutung der Bodenschätze

Die Transportinfrastruktur spielt eine wichtige Rolle bei der bevorstehenden wirtschaftlichen Entwicklung in den westlichen Regionen Chinas. Unter Wirtschaftswissenschaftlern wird jedoch diskutiert, ob der Ausbau der Transportinfrastruktur den wirtschaftlichen Fortschritt auslöst oder umgekehrt. Die beachtlichen Investitionen in diesen Sektor stellen jedenfalls nur einen Teil der Gleichung dar. Investition in soziale Dienstleistungen wäre erforderlich, denn wir sind der Überzeugung, daß die soziale Infrastruktur der Schlüssel zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Weiterentwicklung ist.

Aus der ökonomischen Perspektive des Wirtschaftswissenschaftlers eilt die tibetische Transportinfrastruktur - vor allem die im Bau befindliche Eisenbahnlinie nach Lhasa - der aktuellen Nachfrage weit voraus, weil man hofft, durch reduzierte Transportkosten mehr Unternehmen in Tibet ansiedeln zu können.

Ob die Gormo-Lhasa-Eisenbahnlinie die Transportkosten tatsächlich reduzieren wird und sich damit das Einkommenspotential pro Kopf in Tibet erhöht, ist abhängig von ihrer Rückwirkung auf den Markt und von den Anlieferungsbedingungen für Güter. In Tibet ist der Marktfaktor beklagenswert niedrig, und nach Ansicht von Experten kann dieses Projekt niemals kommerziell rentabel werden. Aber, wie der frühere Präsident Jiang Zemin im Verlauf seines Amerikabesuchs im August 2002 der New York Times gegenüber einräumte, handelt es sich bei diesem Eisenbahnprojekt ja um eine politische Investition.

Fernstraßen und Eisenbahnlinien bilden die Grundlage für die Ambitionen der Chinesen, Tibets Ressourcen auszubeuten, um die weit entfernten chinesischen Städte und Fabriken mit Rohstoffen zu versorgen und die militärische Kontrolle über die tibetische Region zu konsolidieren.

Die erste Eisenbahnlinie nach Tibet, die von Lanzhou in China über Siling (chin: Xining) nach Gormo verläuft, ermöglichte den Chinesen die Errichtung des ersten petrochemischen Werks auf tibetischem Boden im ariden Gormo und den Transport von mindestens 15 Millionen Tonnen tibetischen Öls und Petroleums in die Raffinerien von Lanzhou auf dem Schienenweg. Anschließend wurden 40 km speziell angefertigte Schienen gelegt, um eine Gleisanbindung an die chinesische Forschungs- und Entwicklungsanlage für Atomwaffen in der TAP Haibei (tib: Tsojang) zu schaffen.

Jetzt wird diese Strecke von Gormo im Nordosten zur tibetischen Hauptstadt Lhasa ausgebaut, was den Staat 3,2 Milliarden US$ kostet. Das wird China die Ausbeutung der wertvollen Chromlager entlang der Strecke ermöglichen, sowie einen Zugang zu dem neuentdeckten Ölbecken Lhunpola im Chang Thang schaffen. Des weiteren rechnet China nach Fertigstellung der Eisenbahnlinie im Jahr 2007 mit einem Passagierverkehr von jährlich zwei bis drei Millionen einheimischer Touristen: Sie werden die heiligen Stätten überschwemmen, um exotische Tibeter zu filmen. Damit wird auch eine entsprechende touristische Infrastruktur entstehen - Urlaubsbungalows, Hotels und Luxusvillen für die chinesischen Neureichen - wodurch der Bedarf an Elektrizität, Wasser und anderen Gütern in Lhasa und den umliegenden ländlichen Gegenden ansteigt. Und die Fähigkeit des Landes, die durch die chinesischen Zuwanderer ständig wachsende Bevölkerung zu ernähren, wird zusätzlich belastet werden.

Chinesen in Wenquan zwischen Gonghe und Huashixia, einem Ort am Qinghai-Tibet Highway, der von vielen chinesischen Kraftfahrern etc. besucht wird, © Dr. Axel Gebauer

Einer der wenigen Abschnitte des chinesischen Weißbuchs, der detailliert und genau ausgearbeitet ist, befaßt sich mit den Maßnahmen zur Begrenzung der Umweltschäden durch den Bau der Eisenbahnlinie nach Lhasa. Unabhängige Untersuchungen bezüglich der Umsetzung dieser Vorgaben sind nicht gestattet.

Der Schienenstrang wird fast auf der gesamten Strecke von 1.142 km Länge auf erhöhten Bahndämmen verlegt, damit der Gleisuntergrund permanent gefroren bleibt. Dadurch werden massive Erdbewegungen erforderlich, durch die, wie auch im Weißbuch zugestanden wird, die Wanderrouten von gefährdeten Tierarten unterbrochen und empfindliche Feuchtgebiete, die an der Oberfläche zwar tauen und wieder gefrieren, deren tiefere Schichten jedoch permanent gefroren bleiben, durchschnitten werden.

In 50 Jahren ist es China nicht gelungen, eine Fernstraße zu bauen, die auf Dauer dem ständigen Wechsel von Gefrieren und Tauen, dem Auf und Ab einer geographisch einzigartigen Zone, deren Erdreich einen Teil des Jahres gefroren ist, Stand halten kann. China hat kein Verständnis für die grundsätzliche Dynamik des tibetischen Geländes. Dennoch wird durch diesen Eisenbahnbau mehr Erdreich bewegt als bei irgendeinem anderen Projekt in der Geschichte.

Wie will China verhindern, daß durch Tunnelbau, Sprengungen und Erdbewegungen in großem Ausmaß eine weitere Degradation des eisigen und äußerst empfindlichen Graslandes erfolgt? Das Weißbuch führt aus: "Für die Quell- und Feuchtgebiete entlang der Bahnlinie sind spezielle Schutzmaßnahmen zu treffen, um der Desertifikation in den Quellgebieten, dem Rückgang der Feuchtgebiete, der Zerstörung des Graslandes und der Wasserverschmutzung, die durch die Bauarbeiten entstehen könnten, vorzubeugen. Dabei sind der Schutz und die Regeneration der Vegetation besonders zu beachten."

Leider läßt sich das Weißbuch nicht darüber aus, wie das bewerkstelligt werden soll. Es steht da lediglich: "Die Grassoden sollten erhalten bleiben und anderorts Stück für Stück eingepflanzt werden, um dann wieder zurücktransportiert und auf den Hängen aufgebracht werden zu können". Weiter heißt es: "An das Hochplateau angepaßte Grassorten sollten behutsam ausgesucht und auf angemessene Weise angepflanzt werden, um die Vegetation so weit wie möglich wieder in den Zustand vor dem Eisenbahnbau zu versetzen". Es wird nichts darüber gesagt, ob die chinesischen Wissenschaftler etwas über die entsprechenden Spezies oder darüber wissen, welche Pflanzensorten Verpflanzung, extreme Kälte, Stürme, Schneestürme und das Abweiden durch Wild- und Haustiere überhaupt überstehen können.

Die von den Chinesen durchgeführten wissenschaftlichen Experimente, bei denen neue Grassorten in tibetischen Weidegebieten angepflanzt wurden, zeitigten bisher nur unbefriedigende Resultate. Die Nomaden mußten die Grassaat einzäunen, später das Futtergras mähen und zu ihren Tieren transportieren, weil die empfindlichen Exoten sonst kaum überlebt hätten.

Es muß bezweifelt werden, ob die Chinesen tatsächlich wissen, wie sie die Schäden, die durch den Bau der Bahnlinie in den empfindlichen tibetischen Feuchtgebieten angerichtet werden, begrenzen oder wiedergutmachen können. Dem chinesischen Weißbuch zufolge gibt es "dreizehn technische Schlüsselprobleme, die derzeit wissenschaftlich untersucht werden; die Hälfte von ihnen betreffen den Umweltschutz". Doch das Prinzip der Vorsorge, auf dem alle internationalen Umweltschutzprogramme basieren, lautet, daß ehe destruktive Eingriffe in die Natur überhaupt vorgenommen werden, die Lösung der Probleme bekannt und für Abhilfe gesorgt sein sollte.

Die von Peking festgelegte Trassenführung durchschneidet, wie das Weißbuch einräumt, die drei offiziell unter Schutz stehenden Naturreservate Hoh Xil, Chumarleb und Soga - alle drei Habitate der gefährdeten Antilopen und Gazellen. Die von den Chinesen vorgesehene Lösung wegen der Unterbrechung ihrer Wanderrouten besteht im Bau von Tunneln - in der Hoffnung, daß die Herden sie trotz eines vorgesehenen Fahrplans von täglich acht Zügen in beide Richtungen zur Unterquerung der stark befahrenen Gleise benützen werden.

Teil 6

Ausblick auf die Zukunft

Der größte Irrtum in der chinesischen Tibetpolitik besteht darin, natürliche und soziale Unterschiede als Hindernisse für den Fortschritt anzusehen, statt als Indiz dafür, daß es verschiedene Wege und Zielsetzungen für die Entwicklung gibt. Das Gefälle in dem materiellen Niveau zwischen Chinas westlichen und östlichen Regionen setzt den Standard für den Fortschritt in den Bereichen Wirtschaftsleistung und Konsum. Aus chinesischer Sicht ist das Wichtigste für die Tibeter nicht etwa, daß sie ihren eigenen Weg in der ihnen gemäßen Zeit finden, sondern daß sie schnellstmöglich einen ähnlichen Standard wie die wohlhabenden östlichen und die Küstenprovinzen des Chinas erreichen.

Die Logik des chinesischen Entwicklungsmodells - das ein "Tiefland-Modell" ist - basiert auf den bisher in der VR China gesammelten Erfahrungen und den dort herrschenden Bedingungen, sowie der Annahme, es würden landesweit dieselben Prozesse ablaufen und dieselben Rahmenbedingungen gelten. Die Möglichkeit, daß die unterschiedlichen sozialen und natürlichen Bedingungen in Tibet für die Entwicklung durchaus von Wert sein könnten, wird von diesem Modell daher ignoriert.

Diese oben beschriebene, fern von Tibet erarbeitete Logik bildet die Grundlage für die in Tibet betriebene Entwicklungs- und Umweltschutzpolitik - sei es nun die Seßhaftmachung der Nomaden, das Einzäunen des Weidelands, die Wiederaufforstung, die Schädlingsbekämpfung, der Aufbau der Infrastruktur, die Urbanisation oder die gegenwärtige Einstellung zu nachhaltiger Entwicklung. Diese Divergenz in der Herangehensweise ist der auslösende Faktor für unseren Bericht gewesen. Wir wollen damit erreichen, daß China die Mannigfaltigkeit und Nicht-Uniformität Tibets, welches einzigartig ist und keiner gängigen Schablone entspricht, versteht und hoffentlich auch schätzt, daß es folglich auf dem Potential der dort vorherrschenden Bedingungen aufbaut und eine neue Bereitschaft zeigt, aus den Erfahrungen im eigenen Land und auf der ganzen Welt zu lernen.

Lehren aus einem alten chinesischen Sprichwort

Es wäre weise, sich eines alten chinesischen Sprichworts zu erinnern, welches rät. "Um den Weg, der vor dir liegt, zu erkennen, frage diejenigen, welche zurückkommen". Nur wenn China gewillt ist, Lehren aus seinen eigenen wie auch aus internationalen Erfahrungen zu ziehen, kann es dazulernen und so die Fehlschläge vermeiden, welche häufig mit groß angelegten wirtschaftlichen Entwicklungsprojekten, insbesondere in einer anfälligen Umgebung, einhergehen.

Das heutige China konzentriert sich viel zu sehr darauf, den westlichen Konsumstandard einzuholen, und betrachtet dabei ökologische Bedenken als zweitrangig. Aus dem chinesischen Weißbuch wird deutlich, daß diese Nation bei ihrem Umgang mit der Natur den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Sie hat nicht erkannt, welche Weisheit in dem tibetischen Erfahrungsschatz liegt, der für Nachhaltigkeit bürgt. Die buddhistische Philosophie beachtet nicht nur das eigene Selbst und nicht nur dieses Leben, sondern sie ist dem Wohlergehen aller Lebewesen - auch dem der künftigen Generationen - verpflichtet.

Die China eigene Auffassung von Fortschritt wird schon in den ersten Abschnitten des Papiers deutlich: "Erst nach der friedlichen Befreiung Tibets gab es dort einen Ansatz zu wirtschaftlicher Entwicklung und Erhaltung der Umwelt... womit dem tibetischen Volk der Sprung von der Jahrhunderte langen passiven Hinnahme natürlicher Bedingungen zur aktiven Gestaltung ihrer Umwelt aus eigener Initiative ermöglicht wurde."

Spielhölle in Daotonghe etwa 30 km östlich des Kokonor - das Dorf wurde völlig abgerissen und im tibetischen Stil, aber mit Beton und anderen chinesischen Baustoffen neu gebaut, © Dr. Axel Gebauer

Eine der detailliertesten Studien über das zeitgenössische China ist "Mao's War on Nature" von Professor Judith Shapiro. Mao Zedong ist seit langem tot, aber seine destruktive Auffassung, in der Natur ein frei verfügbares öffentliches Gut zu sehen, ist bei den zentralen Planungs-Funktionären immer noch maßgebend. Mit einem Tonfall, der an Mao erinnert, verkündet das chinesische Weißbuch: "Um den Antagonismus zwischen Menschen und Nutztieren bzw. Grasvorrat und Nutztieren abzubauen, ... wurden weidefreie Zonen eingerichtet. Die Anstrengungen wurden intensiviert, um die durch Mäuse, Insekten und giftige Pflanzen gebildeten Risiken zu verhindern bzw. zu kontrollieren."

Anscheinend hat der Staat in den Jahrzehnten, seit er die Verantwortung für das tibetische Grasland übernommen hat, nicht viel dazugelernt. Die Nomaden oder das Ozonloch werden für die Degradation der Weiden verantwortlich gemacht, während seltene Tierarten weiterhin von der Ausrottung bedroht sind. Wären die Tibeter frei, ihr eigenes Grasland zu beweiden, gäbe es keinen sogenannten "Antagonismus" zwischen den Menschen und ihren Tieren.

Der aktuellen Krise des tibetischen Graslands zum Trotz folgert das chinesische Weißbuch, die meisten Teile davon befänden sich "in ihrem ursprünglichen Zustand". Die Chinesen interpretieren "ursprünglichen Zustand" jedoch als "eine passive Anpassung an natürliche Gegebenheiten", eine sklavische Abhängigkeit von der Natur: "Weil das Bevölkerungswachstum stagnierte, die Naturkatastrophen häufig waren und durch die Schneestürme so viele Menschen und Tiere umkamen, gab es in den alten Tagen in Tibet keine Überweidung".

Das jüngste chinesische Weißbuch zur Umwelt in Tibet drückt sich nur selten genau aus und bleibt besonders vage, was von 1950 an die ersten drei bis vier Jahrzehnte unter chinesischer Herrschaft betrifft. Da ist die Rede von wissenschaftlichen Studien und "einem Vorschlag für die wissenschaftliche Entwicklung und Anwendung, welche den Prozeß von wissenschaftlichem Verständnis, Nutzung und Schutz in Gang setzte". China war jedoch nicht fähig, zwischen Nutzung und Schutz zu unterscheiden, also zwischen "einer wissenschaftlichen Basis für die bessere Nutzung der natürlichen Ressourcen zur wirtschaftlichen Entwicklung Tibets und der ständigen Verbesserung der menschlichen Umwelt, also dem Lebensraum der Menschen".

In dem Papier werden Untersuchungen und Regelungen – die aber niemals umgesetzt wurden – als die einzigen positiven Errungenschaften bis in die 90er Jahre hinein erwähnt. Es schweigt sich hingegen aus über die Verwüstungen während dieser langen Jahrzehnte, die zur Dezimierung der tibetischen Tierwelt bis hin zur Ausrottung führte: Das beste Beispiel hierfür ist die tibetische Antilope. Ebenso wird Chinas Entscheidung, seine ersten Atom- und Wasserstoffbomben in der im Nordosten Tibets gelegenen Provinz Haibei (tib: Tsojang) zu bauen und zu testen, ebenso wie die in dieser Region vorgenommene Lagerung von Atommüll mit Schweigen übergangen. Noch werden die Abschußbasen für Atomraketen in Delingha (tib: Terlenkha), Datong (in der Nähe von Serkhog) und Da Qaidam (tib: Tsaidam) im nordöstlichen Amdo irgendwo erwähnt.

Erdrutsch am Marwan-Staudamm
"If the dam was not built, their land would not be lost"
© Rivers Watch East and Southeast Asia, www.rwesa.org

Unser Appell

China lädt alle Umweltschutz-NGOs und Entwicklungsagenturen der Welt, egal ob groß oder klein, dazu ein, mit ihren Projekten nach Tibet zu kommen. Viele Organisationen haben diese Einladung bereits angenommen. Wir Tibeter begrüßen ebenfalls aktives Engagement von außen, denn wir sehen in den von ihnen gesammelten Erfahrungen eine Chance zur Verbesserung des chinesischen Niveaus und eine Anregung für China, die weltbesten Methoden zum Einsatz zu bringen. China sollte lernen, die Zivilgesellschaft auch an den Wäldern und dem Weideland partizipieren zu lassen, anstatt sie auszuschließen und den Tibetern als den eigentlich Betroffenen die ihnen zustehende Rechte auf aktive Mitwirkung zu versagen. Selbstverständlich befürworten wir das internationale Engagement zur Förderung der tibetischen Gemeinwesen bei der Artikulation ihrer Ziele ausdrücklich und begrüßen es, daß China auf diese Weise in den Genuß der in anderen Weltgegenden gesammelten Erfahrungen kommt.

Huashixia in der Nähe des Donggi Cona/Tosson Nor - Gegensatz zwischen traditionellem und umweltverträglichem Transportmittel Pferd und Autoreifen als unsachgemäß abgelagertem Zivilisationsmüll moderner Transportmittel.
Der Ort Daotonghe etwa 30 km östlich des Kokonor - das Dorf wurde völlig neu erbaut, an eine Müllentsorgung dabei allerdings überhaupt nicht gedacht.
Beide Bilder © Dr. Axel Gebauer

Gemäß der chinesischen Verfassung haben die Tibeter ein Recht auf nominelle Autonomie. Viele internationale Organisationen haben erkannt, daß sie auf dem traditionellen Wissen aufbauen, mit klein angelegten und lokal kontrollierten Projekten anfangen und die gemeinschaftlichen Strukturen, die für die Tibeter schon immer maßgeblich waren, respektieren müssen. Die Standardmethoden der raschen Erfassung lokaler Bedürfnisse durch Mitbestimmung sind im Falle Tibets vielleicht nicht geeignet. Es ist besonders wichtig, innovative und praktische Wege zu finden, um die Menschen vor Ort mit einzubeziehen und auf ihre Bedürfnisse einzugehen, ohne dabei die Integrität internationaler Organisationen, die den Standards echter Mitbestimmung und Meinungsfreiheit verpflichtetet sind, zu kompromittieren.

Während wir Partnerschaften mit den chinesischen Behörden, die konstruktive Projekte in Tibet planen, willkommen heißen, legen wir jedoch - zum Wohl von Land und Leuten - großen Wert darauf, daß sie wohldurchdacht und gewissenhaft durchgeführt werden. Die Tibeter werden immer klein angelegten lokalen Projekten den Vorzug geben, weil solche ihren Bedürfnissen unmittelbar entgegenkommen. Dabei sollten die Gemeinden vor Ort mit mehr Vollmachten ausgestattet werden, so daß sie Umweltschutzprojekte dann in ihre eigene Hand nehmen und aufrechterhalten können. Großprojekte, insbesondere massive Infrastrukturmaßnahmen und Schwerindustrie, stellen keine angemessenen Entwicklungsinvestitionen für das tibetische Hochplateau dar.

Logischerweise sollte die tibetische Landbevölkerung, also die Bauern und Nomaden, im Mittelpunkt der wirtschaftlichen und ökologischen Planungen stehen. Chinas führender Wirtschaftspolitiker Hu Angang rät: "Die Wahl des Weges zur Modernisierung sollte immer auf dem Grundprinzip der 'Vermehrung des Wohlstandes der Menschen an der Basis, der Investition in die Bevölkerung' beruhen, um diejenigen, welche die Mehrheit der Bevölkerung bilden - die Bauern und Hirten nämlich - unmittelbar zu den Hauptbegünstigten zu machen".

Tibetische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler befürworten bereits seit Jahren Investitionen in die Nachhaltigkeit der Erträge und die Vielfalt der Sorten sowie in die Wertsteigerung der traditionellen landwirtschaftlichen Produkte. Diese Vorgehensweise schafft nicht nur mehr Wohlstand, sondern reduziert auch den Ruf nach Subventionen. Landwirtschaft und Viehzucht liegen im Vergleich zur Industrie im Verbrauch niedrig, sie haben aber den Vorteil, arbeitsintensiv und sehr flexibel zu sein. Es ist selbstverständlich, daß Landwirtschaft, Viehzucht und andere für Tibet charakteristische Gewerbezweige bei den Entwicklungsplanungen absoluten Vorrang genießen sollten, denn sie verfügen bei einer vergleichsweise recht niedrigen Investitionshöhe über das größte Potential, der mehrheitlich aus Bauern und Nomaden bestehenden Bevölkerung Tibets Nutzen zu bringen und ihren Lebensstandard anzuheben.

Den Bauern und Nomaden eine Vorrangstellung einzuräumen, ist dem globalen Entwicklungsdenken nicht fremd. Für China mit seiner traditionell stark zentralistisch orientierten Struktur ist dies jedoch etwas völlig Neues. Von Mitbestimmung wird überall geredet. Mit der Forderung nach einer von der Struktur her eingeplanten aktiven tibetischen Beteiligung an Entwicklungsprojekten würde ein Standard gesetzt, der die Beschäftigung von Tibetern mit der notwendigen Sachkenntnis in allen Phasen eines jeden Projektzyklus sicherstellen würde. Wenn Tibeter in Projektteams mitarbeiten, werden sie nicht nur die wirklichen Bedürfnisse und die tatsächliche Einstellung der Bevölkerung in den tibetischen Gebieten erkennen können, sondern auch bei der Überwindung von Kommunikationsproblemen mit der chinesischen Bürokratie behilflich sein. Dies wiederum trägt zur besseren Verwaltbarkeit, zur Herrschaft des Rechtes, zu Transparenz und Verantwortlichkeit bei. Tibetische Mitarbeiter oder Berater werden die Projekte nicht komplexer machen, sondern dazu helfen, Lösungen und gangbare Wege zu finden, die alle Parteien zufriedenstellen.

Tibeter bevorzugen lokale Projekte, die einem speziellen Zweck dienen, und sie legen Wert auf flexible, dezentralisierte Serviceleistungen, sie geben dem Wohle der Menschen den Vorzug vor großen Infrastrukturvorhaben und sie ziehen kleine Projekte den unflexiblen großen vor.

Die wichtigsten Prioritäten bei der Entwicklungs- und Umweltpolitik im heutigen Tibet sind daher:

  • dezentralisierte und die Kultur berücksichtigende Projekte.

  • bessere Koordination zwischen den verschiedenen für den Umweltschutz verantwortlichen Ministerien, um so die negativen Umweltauswirkungen von Entwicklungsprojekten - insbesondere des Abbaus von Bodenschätzen und des Ausbaus der Infrastruktur - besser kontrollieren zu können.

  • Investitionen zur Verbesserung der Verwaltung von Naturschutzgebieten in Form von logistischer Unterstützung und Maßnahmen zur Durchsetzung der Umweltgesetzgebung.

  • Schulung der Tibeter und ihre tatsächliche Mitbestimmung am nachhaltigen Management der natürlichen Ressourcen.

  • Unterstützung für die Mobilität der Nomaden und für die Qualität der Weiden. Dazu gehört auch ein flexibles Verpachtungssystem, einschließlich des garantierten Zugangs zu jahreszeitlich genutzten Weiden, die Einbindung der örtlichen tibetischen Gemeinden bei der Regeneration des Graslands, dezentralisierte tierärztliche Versorgung, die Einführung hybrider, für die Bedingungen in Tibet geeigneter Züchtungen, die Förderung von Direktvertrieb und Wertmehrung in kleinem Rahmen unter lokaler Kontrolle. Das heißt auch Beschaffung von transportablen Solarenenergie-Anlagen statt Nutzung von festen Stromnetzen, durch welche die Nomadenfamilien zur Seßhaftigkeit gezwungen werden, was wiederum zu beträchtlicher Degradierung und Erosion des Weidelands und somit zu Produktionseinbußen und Armut führt.

  • Unterstützung der tibetischen bäuerlichen Gemeinschaften, um so die Abhängigkeit von chemischen Düngemitteln und Pestiziden bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Produktivität zu verringern, mit garantiertem Zugang zu geeignetem Land. Lokale Kooperativen, die der Kontrolle der Gemeinde unterstehen, sollten gefördert werden, um durch eine Verarbeitung bäuerlicher Produkte den Wert zu mehren und eine Einkommensverbesserung zu erzielen.

  • Förderung von Arbeitsmöglichkeiten in der nicht landwirtschaftlich genutzten Zeit, die nicht zur Trennung von der Familie oder zur Entvölkerung der ländlichen Regionen führen.

Procapra picticaudata
Tibetgazellen
© Dr. Axel Gebauer

Pseudois nayaur
Blauschafe
© Dr. Axel Gebauer

Fotos & Copyright
Dr. Axel Gebauer
Naturschutz-Tierpark Gorlitz e.V.
www.tierpark-goerlitz.de
Rivers Watch East and Southeast Asia
Baguio City, The Philippines
www.rwesa.org
Tibet Information Network
London
www.tibetinfo.net
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