Karma Dawa, der Initiator des Drapchi-Protestes vom Mai 1998, floh aus dem Drapchi Gefängnisspital
Karma Dawa, alias Kadar, ist die Flucht aus einem Hospital in der Nähe des Drapchi Gefängnisses, wo er sich von einer größeren Operation erholte, gelungen.
Früher wegen mutmaßlicher krimineller Delikte wie Raub und Entwendung eines Gewehrs überführt, war Kadar vom Mittleren Volksgericht Lhasa zu 13 Jahren in Drapchi verurteilt worden. Kadar ist es gewesen, der zusammen mit seinem Mitgefangenen Karma Sonam im Mai 1998 die Proteste in Drapchi auslöste, als er Unabhängigkeitsparolen rief und Zettel in die Luft warf. Diese verwegene Tat auf dem Gelände des Gefängnisses brachte den beiden eine Urteilsverlängerung von acht bzw. neun Jahren ein.
Das TCHRD interviewte Kadar mehrere Male. Hier folgt die Übersetzung seines persönlichen auf Tibetisch geschriebenen Berichts:
"Ich stamme ursprünglich aus dem Kreis Sershul (chin. Shiqu xian), TAP Kandze. 1994 begab ich mich mit meinem Freund Tsering Norbu zur Pilgerfahrt und aus geschäftlichen Gründen nach Lhasa. Nach vier Tagen nahmen uns sieben Polizisten in der Nähe des Ramoche Klosters fest und sperrten uns in das Polizeihauptrevier ein. Sie beschuldigten uns, Passanten ausgeraubt und einem Polizeioffizier sein Gewehr gestohlen zu haben. Wir wurden beide fürchterlich geschlagen.
Nach einer Woche wurden wir in die Gutsa Haftanstalt verlegt, wo ich ein Jahr und acht Monate lang festgehalten wurde. Bei den Vernehmungssitzungen wurde ich mit elektrischen Viehstöcken traktiert und mit noch schlimmeren Foltermethoden bedroht, um mich zu einem Geständnis zu pressen. Aber während der ganzen Zeit, die ich dort einsaß, bekannte ich mich nicht zu den gegen mich erhobenen Beschuldigungen.
Schließlich wurde ich nach drei Gerichtsverhandlungen zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Ich beteuerte immer wieder meine Unschuld und verlangte, daß das Gericht entweder Beweise oder Zeugen für meine vermeintlichen Verbrechen liefere. Nach dem Urteilsspruch wollte ich Berufung gegen das Urteil einlegen. Die Gerichtsbeamten erklärten mir jedoch, ich müsse meine Strafe absitzen, ehe ich ein Recht zur Berufung hätte.
1996 wurde ich in die Sektion 6 des Drapchi Gefängnisses verlegt. Ich erzählte einem tibetischen Gefängnisbeamten meine Geschichte, der mich darin bestärkte, Berufung einzulegen. Ich richtete daher zwei Appelle an das Mittlere Volksgericht von Lhasa. Darin beschrieb ich den Verlauf des Prozesses und erklärte, daß ich zu Unrecht beschuldigt wurde und unschuldig sei.
Drei Monate später kamen zwei Beamte des Mittleren Volksgerichts von Lhasa zu mir ins Drapchi Gefängnis. Eine tibetische Beamtin namens Dekyi fragte, warum ich das Berufungsschreiben verfaßt hätte und meinte, es sei ein nutzloser Akt gewesen. Sie riet mir dringend davon ab, die Berufung weiter zu verfolgen, weil mir dies möglicherweise eine Haftverlängerung einbringen könnte. Ich beteuerte den Beamten gegenüber erneut meine Unschuld und verlangte, daß sie einen Beweis für die mir angelasteten Verbrechen erbringen sollten. Sie notierten alle meine Bemerkungen, doch es geschah nichts daraufhin.
Drei Jahre lang arbeitete ich in der Schneiderei in Drapchi. Insgeheim hörte ich die tibetischen Radiosendungen von Voice of America und Radio Free Asia. So wurde mir allmählich die Lage der tibetischen politischen Gefangenen bewußt. Bei Besuchen ausländischer Delegationen bekamen wir auf einmal besseres Essen, sonst war die Ernährung so miserabel, daß wir gesundheitliche Schäden davontrugen. Während derartiger Besuche wurden die tibetischen politischen Gefangenen zumeist in ihre Zellen gesperrt, um den Anschein zu erwecken, daß es gar nicht so viele von ihnen gäbe.
Alleine in meiner Gefängniszelle dachte ich über die Tragödie Tibets und die traurige Situation der Tibeter nach. So fühlte ich mich immer mehr gedrängt, gegen das zu protestieren, was die Tibeter unter der kommunistischen Herrschaft allgemein erleiden, sowie gegen die entsetzlichen Bedingung der politischen Gefangenen im Besonderen. Ich sprach mit Karma Sonam, einem Leidensgefährten, über meine Gedanken und wir beschlossen zu protestieren, sobald sich eine günstige Gelegenheit bieten würde - entweder der Besuch einer ausländischen Delegation oder ein wichtiger Jahrestag oder ein großes öffentliches Meeting. So schrieben wir "Free Tibet" und "Lang lebe Seine Heiligkeit der Dalai Lama" auf Zettelchen, von denen jeder von uns 15 Stück hatte.
Am 1. Mai 1998 plante die Gefängnisleitung den internationalen Tag der Arbeit zu begehen, was eine Flaggenzeremonie und eine Vorführung militärischer Drillübungen durch die Insassen bedeutete. Alle Gefangenen, sowohl kriminelle als auch politische, wurden in Reih und Glied aufgestellt. Kurz bevor die Flagge hochgezogen werden sollte, traten Sonam und ich aus der Reihe und riefen Free Tibet und verteilten unsere Zettelchen. Andere Gefangene fielen sofort ein und riefen mit uns Free Tibet. 20 Minuten lang herrschte völliges Chaos auf dem Gefängnishof. Dann stürzten sich jedoch von allen Seiten bewaffnete Volkspolizisten auf die Gefangenen. Viele wurden geschlagen und erlitten schwere Verletzungen. Infolge dieses Protestes starben acht politische Häftlinge und 27 wurden mit Urteilsverlängerungen bestraft.
Ich wurde auch entsetzlich geschlagen und drei Monate und 28 Tage lang in Isolationshaft gesperrt, wobei ich Fuß- und Handschellen trug. Jeden Monat wurde ich verhört; zwei Häftlinge wurden extra abgestellt, um mich zu beobachten und über all mein Tun Bericht zu erstatten. Danach wurde ich wieder vor Gericht gestellt und mit einer Haftverlängerung von acht Jahren bestraft, während Karma Sonam neun Jahre bekam. Bei diesem Anlaß erklärte ich wieder meine Unschuld und wandte mich gegen die Ungerechtigkeit des Gerichtsprozesses.
Diesmal stimmte das Gericht zu, eine Untersuchung des vorausgegangenen Verfahrens einzuleiten. Doch dabei kam nichts heraus, und ich hörte niemals etwas über das Ergebnis der Untersuchung. Bei beiden Prozessen wurde mir ein Rechtsbeistand verweigert, und außer Karma Sonam, mir und den Gerichtsbeamten war niemand anwesend. Wir kamen beide in die Abteilung eins des Drapchi Gefängnisses.
Allmählich stellten sich schwere gesundheitliche Probleme bei mir ein, doch die Gefängnisaufseher wollten mir nicht glauben, daß ich krank sei, weshalb mein Zustand immer schlimmer wurde. Nach wiederholten Bitten um eine medizinische Untersuchung brachten sie mich schließlich im Juli 1999 in das Militärhospital von Lhasa. Die ganze Zeit über waren sowohl meine Füße als auch meine Handgelenke mit Ketten gefesselt. Ein Arzt erklärte, daß ich operiert werden müßte.
Ich mußte ein Schriftstück unterschreiben, daß ich im Falle des Mißlingens der Operation selbst für meinen Tod verantwortlich sei. Ein Gefängnisaufseher fragte mich, ob ich vor der Operation noch irgendeinen Wunsch hätte. Ich bat darum, daß meine Mutter mich im Krankenhaus besuchen dürfe, doch sogar dieser Wunsch wurde mir verweigert. Selbst während der Operation war ich angekettet.
Nach einem Monat im Hospital besserte sich mein Zustand allmählich. Ich bat erneut darum, daß die Ketten entfernt würden, aber ohne Erfolg. Zwei Soldaten bewachten alle politischen Gefangenen aus Drapchi, die sich in dem Hospital befanden. Eines Tages beschlossen sie, daß alle Häftlinge gewaschen werden sollten, weshalb wir in den Hof geführt wurden. Ich weigerte mich zu gehen, weil mir das Laufen mit den Ketten schwerfiel. Da nahmen sie mir die Ketten endlich ab. Bald erfolgte eine Wachablösung und die neuen Wachen bestanden nicht mehr auf den Ketten. So versteckte ich sie unter dem Bett und konnte mich nun frei bewegen. Die neuen Wachen schienen nicht zu wissen, daß ich eigentlich hätte gefesselt werden müssen. So nahm diese schmerzhafte Erfahrung ein Ende.
Am 6. August 1999 sah ich eine Gelegenheit zur Flucht. Um etwa ein Uhr nachmittags sagte ich den Wachen, daß ich zur Toilette müsse. Unter meiner Gefangenenuniform trug ich gewöhnliche Kleider. Die Wachen schauten Fernsehen und kümmerten sich nicht weiter um mich. Als ich merkte, daß ihre ganze Aufmerksamkeit von dem TV Programm gefesselt war, stahl ich mich vorsichtig aus der Toilette und rannte weg.
Drei Tage lang rannte und rannte ich, ehe ich wagte, meinen Schritt etwas zu verlangsamen. Ich ging zum Haus meines Onkels, wo ich etwa einen Monat blieb. Es gelang mir, von dort zu entkommen, noch ehe die Polizei kam, um mich festzunehmen. Mein Onkel und seine Tochter wären von der Polizei drangsaliert worden, weil sie nicht sofort Anzeige erstattet hatten, daß ich mich bei ihnen aufhielte. Danach tauchte ich unter und versteckte mich viele viele Monate lang.
2002 gelang mir schließlich die Flucht aus Tibet und ich konnte den ganzen Weg bis zu dem Tibetan Reception Centre in Nepal ohne Hindernisse zurücklegen. Ich floh hauptsächlich, um einer Wiederverhaftung zu entgehen und um als Stimme für andere tibetische politische Häftlinge zu dienen, die weiterhin in den chinesischen Gefängnissen schmachten."
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