Human Rights Update

Oktober 2001

Inhalt
  1. Zwei Mönche von Kloster Sera verhaftet
  2. Tibetischer Jugendlicher in Nepal festgehalten
  3. Das Bettelwesen in Lhasa
  4. Sicherheitskräfte halten eine ganze Flüchtlingsschar auf
  5. Chinesisches Monopol im Geschäfts- und Beschäftigungssektor von Lhasa
  6. Ein ehemaliger Mitarbeiter des tibetischen Fernsehens erzählt
  7. Versetzung eines tibetischen Gemeindechefs entzündet lokalen Protest
  8. Der Leidensweg einer Gewissensgefangenen
Teil 1

Zwei Mönche von Kloster Sera verhaftet

Einer zuverlässigen aus Tibet erhaltenen Information zufolge nahm das Amt für Öffentliche Sicherheit (PSB) in Shigatse, Autonome Region Tibet (TAR), einen Mönch fest, der eine Tonkassette mit Belehrungen des Dalai Lama angehört hatte.

Im Januar 2001 vormittags hörte eine Polizeiwache, die im Kloster auf und abging, wie der Mönch Jampel Gyatso vom Tsangpa Khangtsen (Sektion der Leute aus Tsang) in seiner Kammer eine Kassette abspielte. Der Beamte durchstöberte dessen Zimmer nach belastendem Material und fand dabei die Tonkassette. Gyatso wurde sofort in die Gutsa Haftanstalt abtransportiert. Wie es heißt, ist seinen Angehörigen und Freunden verboten, ihn im Gefängnis zu besuchen. Der 26-jährige Jampel Gyatso wurde in Kreis Lhatse, Präfektur Shigatse, TAR, geboren. Seit 1994 lebte er als ein "nichtregistrierter Mönch" in Kloster Sera, wo er buddhistische Philosophie studierte.

Zwei Monate später gab es einen weiteren Fall von Verhaftung in Sera. Im März 2001 wurde der 30-jährige Mönch Tendar auf Verdacht politischer Aktivitäten festgenommen. Man weiß nicht, wo er hingebracht wurde oder in welcher Anstalt er eingesperrt ist. Tendar stammt aus Kreis Purung der Präfektur Shigatse, TAR, und war wegen seiner Gelehrsamkeit in buddhistischer Philosophie im Kloster sehr angesehen.

Das Kloster Sera beherbergt 580 "registrierte Mönche" (Inhaber von roten Karten) und 200 "nichtregistrierte Mönche" (Inhaber von weißen Karten). Die "nichtregistrierten" sind von der Teilnahme an den Gebetsversammlungen ausgeschlossen, aber viele gehen ihren persönlichen Studien nach.

Ab 1996 setzte die chinesische Regierung in jeder religiösen Institution in Tibet einen "Demokratischen Verwaltungsrat" (Democratic Management Committee) ein. Dreimal im Monat hält dieser Ausschuß obligatorische Versammlungen für die Mönche ab, wo sie politisch indoktriniert und mit den Vorschriften des DMC bekannt gemacht werden. Für jedes Nichterscheinen müssen die Mönche eine Geldbuße von 50 Yuan (8 Yuan entsprechen 1 US$) zahlen.

Teil 2

Tibetischer Jugendlicher in Nepal festgehalten

Wie aus einem Brief mit Datum 7. Mai 2001 hervorgeht, der kürzlich bei dem Tibetan Reception Centre (TRC) in Kathmandu einging, nahm die nepalesische Grenzpolizei am 3. Mai 2001 an dem Dhulikhel Checkpost einen tibetischen Jungen und seinen Sherpa guide fest. Der 14-jährige Tsewang Phurbu kommt aus Kreis Tingri, Shigatse, TAR, und arbeitete zuletzt als Kellner. Sein Vater Nyima Tsering und seine Mutter Shedrol leben in Tibet. Dem Wunsch seiner Eltern folgend, versuchte Phurbu aus Tibet zu fliehen, um zuerst um eine Audienz beim Dalai Lama in Indien nachzusuchen und dann auf eine von der tibetischen Exilregierung geführte Schule zu gehen.

Mit Hilfe eines Sherpas überquerte Phurbu die Grenze zu Nepal. Die beiden verließen den Grenzort Dram am 2. Mai um 5 Uhr abends und wählten einen verborgenen Pfad durch den Wald. Am nächsten Morgen fuhren sie ein beachtliches Stück per Taxi. Der guide riet Phurbu, mit einem öffentlichen Bus weiterzufahren, und versprach, ihn bald einzuholen. Phurbu folgte der Anweisung und fuhr mit dem Bus, bis der Guide, der in Taxi nachgefahren kam, den Bus anhielt. Phurbu stieg aus und fuhr im selben Taxi weiter. Der Sherpa versicherte Phurbu, er sei nun sicher, und sie würden bald Kathmandu erreichen.

Nach ein paar Stunden Fahrt hielt jedoch die nepalesische Grenzpolizei in Dhulikhel das Taxi an und prüfte die Insassen. Da Phurbu weder Nepali noch Englisch sprach, wurde er sofort als ein illegal Eingereister erkannt. Zusammen mit seinem guide wurde er zwei Tage in Dhulikhel festgehalten und dann der Immigrationsbehörde Nepals überstellt.

Im Gefängnis der Immigrationsbehörde schlug der Sherpa vor, daß sie zusammen auszubrechen versuchen sollten. Phurbu beruhigte den Sherpa, denn sie würden bestimmt bald vom TRC ausgelöst werden. Am 5. Mai weckte der Sherpa Phurbu nachts und forderte ihn auf, ihm beim Zerschlagen der Fenster zu helfen, aber Phurbu weigerte sich. Schließlich gelang es dem Sherpa alleine, das Fenster zu zerbrechen und auszuwischen, aber nur um draußen sogleich wieder gefaßt zu werden.

Wegen dieses Fluchtversuches kamen sowohl Phurbu als auch der Sherpa am 6. Mai in das Dili Bazaar Gefängnis in Kathmandu. Der Sherpa wurde auf Zahlung einer Bürgschaft (wie hoch ist nicht bekannt) entlassen. Von Phurbu forderten die Gefängnisbeamten eine Geldbuße von 17.200 NC (Nepali Currency = nepalesische Rupien). Da er diese Summe nicht hatte, wandte er sich in einem Brief um Hilfe an das TRC. Man nimmt an, daß Phurbu entlassen wird, sobald die Strafe gezahlt wird. Dem TCHRD kam zu Ohren, daß Verwandte von Phurbu in Nepal Geld sammeln, um ihn gegen Kaution frei zu bekommen.

Teil 3

Das Bettelwesen in Lhasa

Jampa Wangchok, ein kürzlich aus Tibet eingetroffener Flüchtling, erzählte von den Bettlern in Lhasa. Wangchok und sein Bruder kamen im Juli 2000 nach Lhasa. Da sie kein Geld hatten, mußten sie um Almosen betteln, um sich am Leben zu erhalten. Nach Aussage Wangchoks sitzen die Bettler allmorgendlich entlang des Umrundungsweges des Potala. Wenn dann gegen 11 Uhr die Polizeistreifen kommen, vertrieben sie die Bettler von ihrem Platz. Diese pflegen jedoch gegen 4 Uhr nachmittags wiederkommen, sobald sie nicht mehr verjagt werden. Abgesehen von ein paar körperlich behinderten Chinesen seien die meisten Bettler Tibeter aus entlegenden Gegenden Tibets.

An religiös bedeutsamen Tagen wächst die Anzahl der Bettler gewaltig. So würden sich am 15. Tag des tibetischen Monats, der als der hehrste Tag des Monats gilt, besonders im 4. Monat, Hunderte von Bettlern entlang der Pilgerrouten aufreihen und im Durchschnitt 100 Yuan am Tag bekommen. An anderen Tagen erbetteln sie dagegen nur 10 Yuan.

Alle Personen von außerhalb Lhasas, einschließlich der Bettler, müssen sich bei dem lokalen "Komitee-Büro" registrieren lassen, wofür eine Gebühr von 60 Yuan erhoben wird. Chinesische Beamte würden etwa alle 10 Tage jeden einzelnen Haushalt auf nichtregistrierte Personen inspizieren, die dann eine Geldstrafe leisten müssen. Dieses Komitee verlangt den Bettlern weitere 10 Yuan für "Sauberhaltung" ab.

Jampa Wangchok und Jampa Choephel, beide in den Zwanzigern, trafen am 18. September 2001 in Nepal ein. Sie stammen aus dem Dorf Choego, Kreis Derge in der Provinz Kham. Wangchok berichtete ferner, sein Dorf Choego hätte nichts von der chinesischen "Modernisierung" und "Entwicklung" in Tibet mitbekommen. In Choego wohnen 40 Familien mit etwa 200 Einwohnern, die meisten davon Bauern. Das Dorf hat keine befahrbare Straße, ebensowenig elektrischen Strom noch medizinische Versorgung. Wenn die Leute krank sind, können sie nur die Lamas des Ortes um ihren Segen bitten.

Teil 4

Sicherheitskräfte halten eine ganze Flüchtlingsschar auf

Am 1. April 1999 verhaftete die Polizei von Nagchu eine große Gruppe von 72 tibetischen Flüchtigen in Kreis Nyima, Nagchu, TAR. 25 der Festgehaltenen im Alter von 6 bis 40 Jahren stammen aus dem Bezirk Lhasa und der Rest aus den östlichen Teilen Tibets. Sie wollten alle ins Exil fliehen. Einer von ihnen war Samdup, der unlängst Nepal erreichte und uns diese Information lieferte.

Die Leute wurde 8 Tage lang in dem Haftzentrum von Nagchu festgesetzt und dann der Anti-Krawall-Einheit des Amtes für Öffentliche Sicherheit (PSB) in Lhasa überstellt, wo sie intensiv vernommen wurden. Danach wurden sie in die Gutsa Haftanstalt transportiert, wo sie drei Monate und drei Tage eingesperrt blieben. Wieder wurden sie langwierigen Vernehmungen unterworfen, um den Grund ihrer Flucht und ihre zukünftigen Pläne herauszufinden.

64 der Flüchtigen wurden nach etwa 4 Monaten Haft entlassen. Acht wurden jedoch zu weiterer Bestrafung in Form von "Umerziehung-durch-Arbeit" ausgesondert. Theoretisch ist diese Strafe für Personen vorgesehen, die sich kleinerer Verfehlungen schuldig gemacht haben, die noch keine kriminellen Straftaten sind, aber in der Praxis wird sie sehr oft auf politische Dissidenten angewandt. Die Entscheidungen werden nicht von Gerichten getroffen, sondern von Administrativkomitees, welche der Polizei unterstehen.

Fünf Personen wurden zu zwei Jahren "Umerziehung-durch-Arbeit" verurteilt: Dawa, ein Mönch aus Kloster Gaden, Kreis Meldrogongkar, Phuntsok Choedon und Nyima Dorje aus Kreis Phenpo Lhundrup, Lhakpa Dorjee aus Kreis Nyemo und Samdup aus Kreis Chushul. Die anderen drei, Yangkyi, eine Nonne aus Kreis Nyemo, Passang Norbu aus Lhasa und Rinzin aus Lhasa, wurden auf ein Jahr zur "Umerziehung-durch-Arbeit" beordert.

Alle acht kamen in das Trisam Gefängnis, eine der größten Anstalten für "Umerziehung-durch-Arbeit" in Kreis Toelung Dechen, 10 km westlich von Lhasa. Diese 1992 errichtete Strafanstalt wird manchmal auch als Toelung Dechen oder Toelung Bridge bezeichnet.

Als er in die Anstalt kam - so berichtete Samdup - seien dort etwa 300 Häftlinge gewesen. Und als er am 31. März 2001 entlassen wurde, sei deren Anzahl auf das Doppelte, also auf 600 gestiegen. Die Mehrzahl von ihnen waren Tibeter. Samdup erzählt von den fürchterlichen Bedingungen, denen sie dort ausgesetzt waren. Die Gefangenen litten Hunger, einige erkrankten wegen des unsauberen Wassers und der verschmutzten Lebensmittel. Die Häftlinge mußten sogar menschliche Exkremente aus den Toiletten sammeln und die Gemüsefelder der Anstalt damit düngen.

Mit 9 Jahren trat Samdup als Novize in das Kloster Ratoe in der Gemeinde Nyethang, Kreis Chushul, Bezirk Lhasa, ein. Damals gab es bis zu 90 Mönchen in diesem Kloster, während es gegenwärtig nur 50 sind. Diesen Rückgang schreibt er dem häufigen Erscheinen der "Arbeitsteams" zu.

1995 wurde eine tibetische Nationalflagge an der Tür der Hauptgebetshalle des Klosters aufgezogen, aber niemand wußte, wer dafür verantwortlich war. Seit Rabgyal, ein pro-chinesischer Tibeter, zum Klostervorsteher ernannt wurde, fühlen sich die Mönche ständig beaufsichtigt. Seitdem hörte man nichts mehr von Unabhängigkeitsbekundungen.

Seit 1997 kamen jede Woche einmal Kader von dem Amt für Religionsangelegenheiten und der Polizeibehörde von Chushul in das Kloster und trommelten die Mönche zusammen. Bei diesen Meetings zeigten die Mönche ihren Unmut, wenn Kritik am Dalai Lama geübt wurde. Samdup, der aus einer Bauernfamilie von Kreis Chushul, Bezirk Lhasa, stammt, erreichte im Oktober das TRC in Kathmandu.

Teil 5

Chinesisches Monopol im Geschäfts- und Beschäftigungssektor von Lhasa

Chinesen sind in fast allen Aspekten des tibetischen Lebens dominierend, was in erster Linie der Politik des Bevölkerungstransfers zuzuschreiben ist. Der Zustrom von Chinesen, der als Absicht zur Veränderung und Beherrschung der tibetischen Kultur und Identität wahrgenommen wird, bedroht die Mittel zum Lebensunterhalt der Tibeter und fördert die Rassendiskriminierung.

Wie ein kürzlich aus Lhasa eingetroffenes Ehepaar erzählt, ist es für chinesische Bürger aufgrund ihrer Beziehungen zu höheren Behörden viel leichter, die für die Eröffnung eines Geschäftes notwendigen Papiere und Lizenzen zu bekommen, als für die lokalen Tibeter. Eine Großzahl von Läden und Restaurants, Fabriken und fast alle geschäftlichen Niederlassungen in Lhasa sind im Besitz von Chinesen und werden von ihnen geführt. Außerdem gewähren die chinesischen Behörden ihren Landsleuten viel mehr Vergünstigungen als den Tibetern.

Auch die meisten Taxifahrer in Lhasa sind Chinesen. Sie haben einen starken Sinn der Volkszugehörigkeit und helfen sich gegenseitig bei der Gründung eines Geschäfts und ähnlichen Dingen. Chinesen besteigen nur selten ein Taxi, das einem Tibeter gehört. In Anbetracht des hohen Prozentsatzes chinesischer Bürger in Tibet und besonders in Lhasa, beeinträchtigt dieses Verhalten ernstlich tibetische Taxiunternehmen.

Da Lhasa nun von chinesischen Restaurants überflutet ist, wird es wohl bald keine traditionelle tibetische Kost mehr geben. Der Ehemann arbeitete nämlich als Koch in einem Restaurant. Er gab das Geschäft auf, als es keinen Gewinn mehr brachte, und das Restaurant wurde geschlossen.

Die Eheleute nahmen ihren Fluchtweg durch Kreis Saga, Shigatse. Patrouillierende Grenzsoldaten hielten sie zwei Nächte lang fest und beschuldigten sie, sie hätten nach Indien fliehen wollen, was beide jedoch leugneten. Man sagte ihnen, dies sei dieselbe Route, welche der Karmapa und sein Gefolge 1999 nahmen. Bewaffnete Patrouillen und Spürhunde kontrollieren ständig die Fluchtroute in der Gegend.

Die beiden klagten darüber, wie erbärmlich die Verdienstmöglichkeiten in Lhasa für Tibeter seien. So beschwerte sich die Frau: "Egal wie hart wir arbeiteten, wir lebten immer nur von der Hand in den Mund. Die Früchte unserer Mühsal werden von den schweren Steuerlasten geschluckt, ohne daß sich unsere Lebensumstände bessern würden. Um es kurz zu sagen, wir arbeiten, um die Mäuler der Chinesen zu stopfen. Daher beschlossen wir, in der Hoffnung auf eine bessere und sicherere Zukunft nach Indien zu fliehen". Pema Dolkar, 28, und ihr Mann Phurbu, 29, kamen am 15. Oktober im TCR in Nepal an. Sie möchten nun eine tibetische Schule in Indien besuchen.

Früher ging Dolkar in die Lhasa Mittelschule No. 4. Das Schulgeld einschließlich der Ausgaben für Bücher und "Verschiedenes" betrug etwa 500 Yuan pro Semester. Diese Summe stellt für durchschnittliche tibetische Familien eine riesige finanzielle Belastung dar, und sie können diese überhöhten Gebühren einfach nicht aufbringen, was schließlich zu den hohen Ausstiegsquoten an den höheren Schulen führt. Dolkar verließ die Schule, um als Empfangsdame in einem Hotel zu arbeiten. Von 1989 bis 1997 wohnte sie zu Hause. 1997 fand sie einen Job als Taxifahrerin in Lhasa, den sie bis zu ihrer Flucht ins Exil versah. Phurbu arbeitete als Koch in einem Restaurant.

Wie ein anderer Flüchtling erzählt, haben Tibeter, die aus dem Exil zurückkehren und als Touristenführer oder Übersetzer arbeiten, besonders unter Rassendiskriminierung zu leiden. Manche NGOs wie etwa "Save Children’s Fund" ziehen Exil-Rückkehrer als Dolmetscher vor, weil diese eine bessere Aussprache als Chinesen haben. Inzwischen gibt es aber viele chinesische Übersetzer, welche die tibetischen verdrängen.

Es ist zu befürchten, daß bald eintausend als Übersetzer und Fremdenführer ausgebildete Chinesen nach Lhasa kommen werden und so die wenigen den Tibetern noch übriggebliebenen Jobs wegnehmen werden. Die Lokalbehörden unterwerfen tibetische Touristenführer, die ihre Ausbildung im Exil erhielten, langen Verhörsitzungen hinsichtlich ihrer vergangenen und jetzigen Aktivitäten. Die Exil-Rückkehrer müssen auch eine Kennkarte um 1.000 Yuan erwerben und haben kein Anrecht auf Lebensmittelrationen.

Teil 6

Ein ehemaliger Mitarbeiter des tibetischen Fernsehens erzählt

Ngawang, der am 20. Oktober 2001 Nepal erreichte, arbeitete als technischer Assistent und Fahrer beim Fernsehen der Autonomen Region Tibet. Dank dieses Postens hatte er einen gewissen Einblick in die Machenschaften der chinesischen Propaganda, bei der übertriebene Statistiken und Entstellung der tatsächlichen Fakten eine überragende Rolle spielen.

Im Juli 2001 arbeitete Ngawangs TV Crew an der Drehung eines Films über den großen Erfolg der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in den 50 Jahren der chinesischen Besetzung Tibets. Unter dem Banner des TAR Fernsehens, dessen Chef ein Chinese namens Yeyu ist, reiste die Crew durch ländliche und abgelegene Lokalitäten in der Umgebung von Lhasa.

Bei diesen Besuchen stellte Ngawang nirgends, nicht in einem Lebensbereich der Tibeter, Anzeichen von tatsächlicher Entwicklung fest. In einer Grundschule in Kreis Nyemo fand er, daß die Schüler dort nur 2 Jiao (10 Jiao entsprechen 1 Yuan) von den für die täglichen Ausgaben veranschlagten 5,3 Jiao bekommen. Und dies, obwohl die Zentralregierung der Schule jeden Monat 165 Yuan pro Schüler zuteilt. Es scheint, daß diese Gelder schwinden, sobald die Zentralregierung sie über die Lhasaer Behörden nach Kreis Nyemo transferiert. So erreicht nur ein Bruchteil davon diejenigen, die tatsächlich begünstigt werden sollen.

Wegen derartiger Veruntreuung durch verschiedene offizielle Ränge von den für soziale Zwecke vorgesehenen Geldern hat sich die Lage der Schule und der Schüler nicht gebessert. Die Bewohner des Ortes baten die Regierung um Erlaubnis, eine neue tibetische Schule einzurichten. Es erfolgte jedoch keine positive Antwort. Schon beim Bau der bestehenden Schule erhielt die Lokalbevölkerung kaum Unterstützung von der Zentralregierung.

Bei den Interviews liefern die Gemeinde- und Kreischefs übertriebene Darstellungen der Tatsachen und geben ihre eigenen erfundenen Versionen zum besten. Während die TV Crew die Schule filmte, wurde alles eigens arrangiert, damit ein anderes Bild als die Realität entsteht. Klöster und Mönche wurden bei den Aufnahmen absichtlich ausgelassen, denn die Mönche hätten vielleicht etwas Negatives über die chinesische Regierung von sich geben können, was dem Bild abträglich wäre, welches die Fernsehgesellschaft der Welt bieten soll.

Die ganze Unternehmung dauerte länger als die geplanten drei Monate, weil jeder einzelne Schritt zuerst in Szene gesetzt werden mußte. So mußten für die Interviews passende Leute ausgesucht werden, denen eingetrichtert wurde, was sie vor der Kamera zu sagen haben. Wegen der zahlreichen chinesischen Propagandastücke glauben die Leute kaum etwas von dem, was im Fernsehen gesendet wird. Ngawang meinte: "Die einzigen Programme, welche die Leute für echt halten, sind Fußballspiele und Nachrichten aus aller Welt, welche die Chinesen nicht entstellen können. Sie wissen ganz gut, daß alles andere fabriziert ist".

Ngawang berichtete auch von den Vorbereitungen für den Bau einer Eisenbahnstation in Toelung Dechen. Für diese Arbeiten werden zum Teil auch Tibeter eingesetzt, die wegen Glücksspiels oder Fluchtversuches nach Indien festgenommen wurden. Die Spieler werden mit zwei Jahren Zwangsarbeit auf einer Eisenbahn-Baustelle bestraft, während diejenigen, die bei der Flucht erwischt werden, mit drei Jahren zu rechnen haben.

Allgemein hegen die Behörden gegenüber Tibetern aus der Umgebung von Lhasa größeren Verdacht, weshalb es für sie fast unmöglich ist, einen Paß und ein Visum zu bekommen, um nach Nepal reisen zu können. Es wird vielfach angenommen, daß ab nächstem Jahr alle Reisedokumente in Peking bearbeitet werden, was die ganze Prozedur für Tibeter noch erschweren wird.

Die allgemeine Stimmung in Lhasa, sagte Ngawang, sei von Repression gekennzeichnet. Überall am Barkhor und in Lhasa sind Polizeistreifen sowohl in Uniform als auch in Zivil unterwegs. Die Behörden fahnden immer noch nach Tibetern, die bei den Massendemonstrationen während der 80er Jahre dabei waren. Daher gibt es heutzutage kaum eine Chance, Protestplakate aufzuhängen oder für Unabhängigkeit zu demonstrieren.

Während des Shoton Festes wurde dieses Jahr jedoch eine tibetische Nationalflagge in Kloster Drepung gesehen, die in der Nähe der Stelle, wo die große Thangka entrollt wird, aus einem Fenster hing. Alljährlich wird diese Thangka über den Mauern des Klosters aufgehängt. Viele Leute sahen die Flagge, auch unser Informant. Mehrere Touristen hätten die Szene fotografiert und die belichteten Filme sofort versteckt, damit sie nicht konfisziert werden.

Ngawang erreichte mit seiner Frau und seinem Kind am 10. Oktober Nepal. Sie flohen, weil ihnen ihr Arbeitsplatz nicht sicher vorkam.

Teil 7

Versetzung eines tibetischen Gemeindechefs entzündet lokalen Protest

Shalo, der tibetische Vorsitzende der Gemeinde Karlang, Distrikt Karze, ist wegen seiner Freigebigkeit bei den örtlichen Bewohnern hoch angesehen. Er spielt eine wichtige Rolle bei der Erhaltung der tibetischen Kultur und Identität in Karze und speziell in der Gemeinde Karlang.

Shalo hat stets die Notwendigkeit der Pflege aller Aspekte der tibetischen Kultur betont und großes Interesse für traditionelle tibetische Tänze und Trachten gezeigt. Wegen seiner guten Führungsqualität hielten die Leute des Ortes die tibetische Kultur in hohem Respekt. Er erwies sich auch als ein Wohltäter der Armen und Bedürftigen, denen er, wo auch immer nötig, zu helfen pflegte.

Als sich im August 2001 das Gerücht verbreitete, Shalo sei von seiner Position als Gemeindechef abberufen worden, gerieten die lokalen Tibeter in Erregung. Eine Abordnung von drei Tibetern, einem lokalen Komiteevorsitzenden, einem pensionierten Tibeter und einem Bürger aus Karlang, ging zur Distriktverwaltung, um gegen die Versetzung Einspruch zu erheben. Die drei Männer baten darum, daß Shalo in seiner jetzigen Position als Gemeindevorsteher (chin. xiangzang) beibehalten würde.

Die Bewohner des Ortes sehen in dieser Versetzung einen beabsichtigten Angriff gegen Lokalpolitiker, welche tibetische Kultur und Tradition pflegen. Zu der Zeit, als unsere Informantin ihre Heimat verließ, war das Ergebnis des Einspruchs nicht bekannt.

Dolma Youdon aus der Gemeinde Karlang, Distrikt Karze ist 16 Jahre alt. Sie floh zusammen mit ihren zwei Brüdern über Lhasa und erreichte am 18. Oktober 2001 das TRC in Kathmandu. Sie beabsichtigt nun, eine Schule in Indien zu besuchen, während ihre Brüder in ein Kloster eintreten möchten. Ein Verwandter, der als Mönch in Indien lebt, riet ihr im Hinblick auf eine bessere Erziehung und Zukunft nach Indien zu kommen. So machte sie sich mit ihren zwei Brüdern auf den Weg.

Teil 8

Der Leidensweg einer Gewissensgefangenen

Ngawang Dolma (Laienname: Nyima Dolma) wurde 1971 in dem Dorf Sangna, Gemeinde Yarong Gang, Kreis Phenpo Lhundrup, Bezirk Lhasa, geboren. Mit sieben kam sie in die lokale Grundschule, wo sie sechs Jahre lang lernte. Später bekam sie Zulassung zu einer Mittelschule in Lhasa, welche sie mit guten Noten abschloß. Ende 1986 trat sie als Nonne in das Kloster Garu in Lhasa ein. Nach einigen Jahren wurde sie Kassenwart in dem Kloster.

Während der achtziger Jahre erlebte Tibet ein Wiederaufflammen der Demonstrationen gegen die chinesische Besatzung. Zahlreiche Tibeter wurden verhaftet und mit langen Hafturteilen belegt, weil sie an den anti-chinesischen Demonstrationen für Unabhängigkeit teilgenommen hatten.

Am 19. Dezember 1987 veranstalteten Ngawang Dolma und sechs weitere Nonnen (Gyaltsen Choenyi, Gyaltsen Norbu, Gyaltsen Wangchuk, Gyaltsen Dicky, Ngawang Zompa und Gyaltsen Choetso, alle im Alter von 17 bis 25 Jahren) aus Kloster Garu einen Protest für Unabhängigkeit am Barkhor und riefen "Free Tibet". Man nimmt an, daß dieser Protest seit der chinesischen Machtübernahme 1959 und der Kulturrevolution (1966-1977) in Tibet die erste Freiheitsbekundung war, die von Nonnen initiiert wurde.

Innerhalb weniger Minuten umstellten Kräfte des Public Security Bureau (PSB) die Nonnen und lieferten sie in die Gutsa Haftanstalt ein. Auf Intervention des 10. Panchen Lama wurden die Nonnen am 23. Januar 1988 freigelassen. Dolma und ihre Gefährtinnen kehrten daraufhin in ihr Kloster zurück. Chinesische Kader und Polizeibeamte unternahmen regelmäßige Inspektionen in den religiösen Institutionen, um diejenigen, die schon einmal wegen politischem Aktivismus verhaftet und im Gefängnis waren, herauszufinden und auszuweisen. Etwa im März 1990 kam so ein Trupp chinesischer Kader in das Kloster Garu. Im Verlauf ihrer "Säuberungsaktion" wurden 22 Nonnen, darunter auch Ngawang Dolma, hinausgeworfen und an ihre Heimatorte zurückgeschickt.

Dolma lernte nun für eine Weile Englisch und arbeitete dann als Verkäuferin in einem chinesischen Laden an einer der Straßen des Norbulingka Palastes. Wegen ihrer Bildung wurde sie ganz gut für ihren Job bezahlt. Im April 1998 druckte Dolma unter Mithilfe ihrer Freundin Phuntsok Tsondue Flugblätter mit Freiheitsbotschaften. Einige davon gab sie ihren Freunden zum Verteilen, während sie selbst die Blätter in und um den Potala anbrachte und verteilte. Es dauerte nicht lange, bis das Amt für Öffentliche Sicherheit (PSB) von Lhasa Ermittlungen wegen des Zwischenfalls mit den Flugblättern aufnahm. Im Juni 1999 wurden Dolma und Tsondue festgenommen und in das Haftzentrum des PSB von Lhasa abtransportiert, wo sie vernommen und geschlagen wurden.

Die Nonnen wurden später in das PSB Haftzentrum der TAR verlegt, wo man sie ein paar Tage festhielt. Am 6. Januar 2000 verurteilte das Mittlere Volksgericht von Lhasa die beiden unter Anklage der "Gefährdung der Staatssicherheit" nach § 103(2) des chinesischen Strafgesetzes zu verschiedenen Haftstrafen. Ngawang wurde zu drei Jahren Haft und Verlust der Bürgerrechte für 2 Jahre verurteilt. Nach 10 Tagen wurde sie in das Drapchi Gefängnis verlegt, wo sie gegenwärtig ihre Strafe verbüßt.

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