13. August 2005
Eine Tagung der Politischen Akademie Tutzing zum Kurs der neuen Großmacht

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"China spielt auf Zeit"

von Michael Leh

Wie mächtig wird China? Wie wird es seine zunehmende Macht gebrauchen? China-Kenner versuchten im Juli auf einer Tagung der Tutzinger Akademie für politische Bildung darauf zu antworten.

Am brisantesten bleibt die Region Westpazifik. Die Eingliederung Taiwans steht ganz oben auf der außenpolitischen Agenda Pekings, erklärte der Münchner Politikwissenschaftler Peter Opitz. Mit einem offenen Krieg um die Insel rechnet er allerdings nicht. Peking verfüge über eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten, um eine "friedliche Wiedervereinigung zu chinesischen Bedingungen" zu erreichen. Dazu gehörten politische Lockangebote, Druck auf taiwanische Unternehmen auf dem Festland und der Versuch, die taiwanischen Parteien weiter zu spalten. Die Raketenbedrohung wirke einschüchternd, denkbar wären auch eine Seeblockade und die Verminung taiwanischer Häfen. Taiwan sei für die KP Chinas wegen ihrer eigenen brüchigen Legitimation wichtig, aber auch strategisch wichtig.

Der eigene Einfluss in Südostasien werde ständig ausgebaut. Via "Inselhüpfen" schiebe sich China vor. Die Ansprüche Pekings auf das südchinesische Meer tangieren unter anderem Vietnam, Malaysia, die Philippinen und Indonesien. Dabei gehe es neben ergiebigen Fischgründen um vermutete riesige Erdöl- und Erdgasvorkommen. Mit vielen kleinen Einzelschritten versuche China vorsichtig, die USA aus der Region herauszudrängen. Die kleineren Anrainer versuchten ihrerseits, Peking in einer Art "Gulliver-Strategie" vertraglich einzubinden. Sowohl China als auch Japan beanspruchten die Diaoyu-(Senkaku-)Inseln, wobei es auch um Rohstoffvorkommen gehe.

Der Prioritätenwechsel der US-Politik nach dem 11. September sei für Peking ein Glücksfall gewesen. Neben Nordkorea und Irak könnten sich die USA einen zusätzlichen Konflikt nicht leisten. Peking habe seinen Einfluss in Südkorea vergrößert, wolle den Abzug der restlichen US-Truppen und die Entnuklearisierung der Halbinsel. An einer Wiedervereinigung Koreas sei es nur interessiert, wenn das historische Tributverhältnis wieder entstünde.

Das Verhältnis zu Russland sei inzwischen sehr gut. Peking unterstütze Moskau in der Tschetschenienfrage, Moskau Peking in der Taiwanfrage. Gemeinsam wolle man amerikanischen Einfluss in Zentralasien zurückdrängen. Moskau ist der Hauptwaffenlieferant der Chinesen. Viele Waffen würden koproduziert. Vermutlich habe China nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zahlreiche russische Rüstungsfachleute "eingekauft". Peking arbeite am Aufbau einer eigenen konkurrenzfähigen Rüstungsindustrie. Schon jetzt liefere es Waffen unter anderem nach Pakistan und Burma, die dienstälteste Militärdiktatur der Welt.

Der immer höhere Energiebedarf habe Folgen für die Außen- und Sicherheitspolitik. Beispielsweise beziehe China 9 Prozent seines Erdöls aus dem Sudan. Auch Venezuelas Machthaber Hugo Chavez komme gerne mit den Chinesen ins Ölgeschäft. Diese müssten wiederum die Versorgungsrouten sichern, etwa in der leicht zu sperrenden Malakka-Straße. Noch verfüge China nicht über eine hochmoderne Kriegsmarine. Doch wachse das Militärbudget zweistellig.

Das amerikanisch-chinesische Verhältnis ähnele einem Balanceakt. An einem Bruch der Beziehungen sei Peking zumal aus ökonomischen Gründen nicht interessiert. Militärisch sei es zu einem " heißen" Hegemonialkonflikt mit den USA noch längst nicht fähig. Aktuell vorrangig sei der weitere Aufbau und die Konsolidierung der Wirtschaft. Deklariert sei der "friedliche Aufstieg". China spiele auf Zeit. Zuerst wolle es noch seine "eigenen nationalen Kräfte" entwickeln. "Dafür schluckt man noch einiges, siehe Irak", erklärte Opitz.

Der CSU-Bundestagsabgeordnete Klaus Rose hält das EU-Waffenembargo weiter für nötig. Die Menschenrechtslage in China habe sich sogar verschlechtert, erklärte er unter Hinweis auf die Verfolgung der Uiguren, der Falun Gong-Bewegung und die exzessiv verhängte Todesstrafe. Gegenüber Taiwan seien rund 700 Mittelstreckenraketen aufgestellt. Immer wieder gebe es demonstrative Militärmanöver in der Taiwanstraße. Peking investiere unter anderem massiv in militärische Satellitentechnik und liefere Rüstungsgüter bis nach Zimbabwe. Würde das Embargo aufgehoben, drehe sich die Rüstungsspirale weiter. Russland würde dann noch modernere Waffen nach China liefern. Absurderweise habe die französische Verteidigungsministerin erklärt, man müsse sich mit Rüstungslieferungen an China beeilen, weil es bestimmte Waffen auch schon bald selbst herstellen könnte. Dabei wendeten sich die USA strikt gegen einen europäischen Waffenexport in das eindeutige Spannungsgebiet.

Den Taiwanern steht vor Augen, wie die Selbstbestimmung und Pressefreiheit in Hongkong unterminiert werden. "Wir können nicht zulassen, dass auch die Taiwaner so behandelt werden", erklärte Rose. Auf die Frage dieser Zeitung, ob Lockerungen beim EU-weit praktizierten strikten Einreiseverbot für den demokratisch gewählten Präsidenten Taiwans möglich seien, zeigte er sich pessimistisch. Das Verbot (es gilt für Taiwans Präsidenten, den Premier, den Außen- sowie den Verteidigungsminister) bezeichnete er dabei als "Kotau" vor der Macht Pekings. Er, Rose, habe sich beispielsweise gegenüber dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber mehrfach dafür ausgesprochen, dass taiwanische Politiker "zumindest für einen Klinikaufenthalt" einreisen dürften. Unlängst traf Rose in Berlin mit dem Dalai Lama zusammen. Dieser habe erklärt: "Das Volk in Taiwan hat sich selbst Freiheit, Wirtschaftskraft, hochstehendes Erziehungswesen und Demokratie erkämpft. Diese Errungenschaften Taiwans müssten überall auf der Welt verteidigt und unterstützt werden." Der Abgeordnete beklagte die Unterdrückung in Tibet: Während man dort ausländischen Touristen "Vorzeigeklöster wie in einem Disneyland" präsentiere, schreite die Sinisierung voran. Rose, der Vorsitzender des parlamentarischen Freundeskreises Berlin-Taipeh ist, wird dem neuen Bundestag nicht mehr angehören.

Der Professor für Ostasienwirtschaft an der Universität Duisburg, Markus Taube, erklärte zum chinesischen "Wirtschaftswunder": Deutschland ist sozialistischer als China, und China ist kapitalistischer als Deutschland." Ausländische Investoren seien der Schlüssel für Chinas Erfolg. Das Land stabilisiere die Weltwirtschaft und strukturiere sie gleichzeitig um. In fünf bis sechs Jahren würden sehr starke chinesische Konzerne auch auf den europäischen Märkten präsent sein. "Momentan", erklärte Taube, "schätze ich die weitere wirtschaftliche Entwicklung Chinas so optimitisch ein wie nie zuvor." Zugleich wies er auf viele Probleme und Risiken hin: unter anderem hohe Umweltschäden, systemische Korruption, teure "ex-post-Regulierungen", ein angesichts fauler Kredite "praktisch bankrotter" Bankensektor (der aufgrund der hohen Sparquote von 35 bis 40 Prozent trotzdem relativ gut funktioniere, die Banken erhielten stets neues Kapital), eine große Verteilungsungleichheit. Es fehle eine makroökonomische Kontrolle und Koordination. "Die Zentralregierung lenkt – und die Lokalregierungen machen, was sie wollen", erklärte Taube. Die Lohnkosten für eine Arbeitsstunde im produzierenden Gewerbe betrügen 0,80 US-Dollar, in Deutschland 30,60 Dollar ("Die Produktivität ist bei uns aber nicht dreißigmal höher"). Die Lohnerhöhungen blieben niedrig, da viele Arbeiter vom Westen des Landes in die prosperierenden Küstenregionen strömten, somit immer ein Angebot an Arbeitskräften herrsche. Der Lohnvorteil Chinas bei gering qualifizierter Arbeit werde noch ein bis zwei Jahrzehnte fortbestehen.

Für den Politikwissenschaftler Junhua Zhang von der FU Berlin ist China "eigentlich ein Land voller Konflikte und eine Zeitbombe". Am schlimmsten würden die rund 200 Millionen Wanderarbeiter ausgebeutet. Immer mehr Bauern verlören ihr Land. Sozialversicherung sei für sie ein Fremdwort. Im Unterschied zu Russland gebe es in China keine Datschas, auf denen man noch etwas für die Selbstversorgung anbauen könne. Zahllose Menschen könnten sich weder Arztbesuch noch Krankenhausaufenthalt leisten. Die Überalterung werde sich ab 2030 gravierend auswirken. Im Jahr 2003 habe es 15000 Demonstrationen, Sit-ins und Streiks gegeben. Pro Tag fänden in den Städten durchschnittlich 120 Proteste von jeweils über 100 Personen statt. Auf dem Land würden täglich zwischen 90 und 160 solcher Zwischenfälle registriert. Anfang Juli hätten beispielsweise mehrere tausend Wanderarbeiterinnen einer Schuhfabrik in der Stadt Zhuhai wegen unerträglicher Arbeitsbedingungen gestreikt (lächerliche Entlohnung bei über 80-stündiger Wochenarbeitszeit), produziert wird für eine internationale Schuhfirma.

Wie sicher sitzt die KP im Sattel? Wie die übrigen Referenten hält Jinhua Zhang das System für "kurz- und mittelfristig stabil". Die Partei zähle mehr Mitglieder als die Gesamtbevölkerung Frankreichs. Sie pflegten den Zusammenhalt wie in einem Klub. Parteimitglieder würden praktisch nicht vor Gericht gestellt. Ist ein Bauer KP-Mitglied, erhalte er eher einen Kredit. Die Verbindungen zwischen Partei und Privatunternehmen würden immer wichtiger, zumal auf lokaler Ebene. Dabei komme es häufig zu Konflikten mit der Bevölkerung, zum Beispiel wenn keine Rücksicht auf die Umwelt genommen werde.

Die Intellektuellen würden mit Zuckerbrot und Peitsche beherrscht: Professoren erhielten heute sehr gute Wohnungen und Einkommen. "Aber es ist für die KP wichtig, dass diese Schicht schweigt", sagte Zhang. Die Internet-Kontrolle funktioniere sehr gut. Die Digitalisierung bewirke auch eine bessere Informiertheit der Polizeibehörden.

Ganz selbstsicher fühle sich die Partei freilich nicht. Vielmehr sitze ihre Angst vor landesweiten Unruhen und chaotischen Zuständen tief. Jinhua Zhang verweist in seinem Beitrag "Die Entstehung einer neuen elitären Struktur – Hoffnungen, Ambivalenzen und Kontroversen" (in: "China heute", Heft Nr. 3/2005; hrsg. vom katholischen "China-Zentrum" in St. Augustin) auch auf eine Anordnung der Zentralregierung vom November 2004, wie rasch sie über Proteste zu informieren sei. Zum Beispiel muss eine Stadtregierung die Zentrale bei einer Demonstration oder Versammlung von mehr als 30 Personen binnen acht Stunden informieren, und zwar sowohl über die Ursache als auch die Gegenmaßnahmen. Bei einer Demonstration von mehr als 500 Personen muss die Zentralregierung innerhalb von zwei Stunden verständigt werden. Bei 1000 Personen muss dies binnen einer Stunde geschehen. Demonstrieren mehr als 5000 Menschen, hat sich der Provinzgouverneur sofort an Ort und Stelle zu begeben.

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