7. März 2019
Radio Free Asia, www.rfa.org

Die Gruppe „Tiananmen Mütter“ wendet sich gegen die "Neuschreibung der Geschichte" nach dem Massaker vom Platz des Himmlischen Friedens

Dreißig Jahre nach einem Massaker, das die pro-demokratische Bewegung von 1989 auf dem Tiananmen-Platz beendete, hat eine Gruppe von Opfern während der jährlichen Sitzung des Ja-Sager-Parlaments einen öffentlichen Brief an die Parteivorsitzenden geschrieben und sie aufgefordert, die Wahrheit über die von Studenten geführte landesweite Bewegung und ihre blutigen Folgen zu sagen.

"Vor dreißig Jahren schlachteten schwer bewaffnete Truppen, die das Kriegsrecht verhängten, unbewaffnete Studenten und Bürger mit Maschinengewehren und Panzern ab", heißt es in dem offenen Brief der Tiananmen Mütter, der zeitlich mit der Jahrestagung des Nationalen Volkskongresses (NPC) zusammenfällt.

"Aber seitdem schreiben die Behörden die Geschichte um."

Wochenlange, von Studenten geführte Massenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens, symbolisiert durch das Bildnis der "Göttin der Demokratie", wurden von der regierenden Chinesischen Kommunistischen Partei als "konterrevolutionäre Rebellion" und "politische Turbulenzen" bezeichnet, nachdem der verstorbene oberste Führer Deng Xiaoping die Panzer geschickt hatte.

Seitdem sie ihre Angehörigen in dem Blutvergießen verloren haben, so heißt es in dem Brief, gehören die Mitglieder der Gruppe zu den am meisten überwachten Bürgern Chinas, die oft in politisch sensiblen Zeiten unter Hausarrest gehalten und von der Polizei beobachtet werden.

Einige wurden in Handschellen gelegt und in krimineller Verwahrung festgehalten, so der Brief.

Die Tiananmen Mütter haben sich in den letzten Jahren fast jährlich an den NPC gewandt, damit die öffentliche Debatte über das Blutvergießen, das in China nach wie vor ein Tabuthema ist, wieder aufgenommen wird.

Die Sprecherin der Tiananmen Mütter, You Weijie, sagte, daß das heute an der Macht befindliche Regime unter der unbefristeten Präsidentschaft von Xi Jinping im wesentlichen dasselbe ist, das 1989 die Truppen angewiesen hat, auf unbewaffnete Zivilisten zu schießen.

"Es sollte keine Beziehung zwischen der heutigen Regierung und dem, was vor 30 Jahren geschah, geben, aber es ist die gleiche Partei an der Macht", erklärte sie RFA am Donnerstag.

"Die derzeitige Regierung hat die Pflicht, ihren eigenen Bürgern und uns eine Erklärung für die Tragödie zu geben, die sich damals ereignet hat", sagte sie.

"Sie sollten Verantwortung übernehmen, Entschädigung anbieten und die tatsächliche Wahrheit über das Geschehene sagen", meinte sie. "Sie können diesen drei Forderungen nicht mehr ausweichen: Sie sollten reagieren."

Immer noch ungelöst

Eine Aktivistin der Tiananmen Mütter, Zhang Xianling, die ihren 19jährigen Sohn während der Niederschlagung verloren hat, sagte, sie habe sich immer vorgestellt, daß die Regierung einlenken und die Opfer und ihre Familien rehabilitieren würde.

"Ich hätte nie gedacht, daß das auch 30 Jahre später immer noch ungelöst sein würde", sagte Zhang zu RFA. „Selbst unter den chinesischen kaiserlichen Dynastien erlebten wir nie, wie die Herrscher reguläre Truppen schickten, um ihre eigenen Bürger und Studenten zu töten, die in Friedenszeiten demonstrierten."

"Und doch weichen sie dieser Tatsache nun seit 30 Jahren aus", sagte Zhang, die immer noch nicht weiß, ob ihr Sohn Wang Nan sofort starb, nachdem auf einer Straße südlich des Platzes des Himmlischen Friedens auf ihn geschossen wurde, oder ob Soldaten einen Krankenwagen daran gehindert haben, ihn zur Notfallbehandlung zu bringen.

"Sie wagen es nicht, sich dem zu stellen", sagte sie. "Sie sagen uns nur, dass sie schwach und verängstigt gewesen seien."

Aber sie fügte hinzu: "Die Tiananmen Mütter werden weitermachen, auch wenn nur eine von uns übrig bleibt. Eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen."

Frühere Briefe der Tiananmen Mütter haben den NPC aufgefordert, das offizielle Urteil über die "konterrevolutionäre Rebellion", das gegen die von Studenten geführte pro-demokratische Bewegung verhängt wurde, aufzuheben, die Familien der Opfer zu entschädigen und offizielle Dokumente aus dieser Zeit zu veröffentlichen, einschließlich aller Einzelheiten über Todesfälle und Verletzungen.

Die Gruppe schreibt nun seit über 20 Jahren an den NPC, sagt aber, daß sie nie eine Antwort erhalten hat; nur polizeiliche Vergeltungsmaßnahmen.

Die Zahl der Todesopfer in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989, als PLA-Panzer und -Truppen nach Peking einmarschierten und das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten eröffneten, ist bis heute unbekannt.

Während die chinesische Regierung die Zahl der Todesopfer einst auf "fast 300" bezifferte, hat sie noch nie eine offizielle Zahl oder eine Namensliste herausgegeben.

Eine 2009 von den Tiananmen Müttern veröffentlichte Karte listete mehr als 250 Namen auf, die aus bestätigten Augenzeugenberichten und Krankenhausaufzeichnungen von Personen stammen, von denen bekannt ist, daß sie in den Tagen nach dem 3. Juni gestorben sind, aber es ist unwahrscheinlich, daß es sich hierbei um eine vollständige Liste der Opfer handelt.

"Verschone niemanden!"

Nach jahrzehntelanger Geheimhaltung und Unterdrückung der öffentlichen Debatte über das Massaker durch die chinesische Regierung hat eine Reihe von kürzlich veröffentlichten offiziellen Dokumenten mehrere erschütternde und blutige Darstellungen über das, was in der Nacht des 3. Juni 1989 und in den folgenden Tagen auf den Straßen von Peking geschah, geliefert.

Diplomatische Archive, die 2017 von der britischen Regierung freigegeben wurden, sprechen davon, daß die Truppen der 27. Armee der PLA Befehl hatten, "niemandem zu verschonen". Sie verwendeten Dum-Dum-Geschosse, automatische Waffen und gepanzerte Fahrzeuge, mit denen sie in Peking massenhaft die Menschen töteten.

Ein Dokument beschreibt, wie Truppen aus der nordöstlichen Stadt Shenyang zuerst unbewaffnet eingesetzt wurden, um die Menge zu zerstreuen, gefolgt von der voll bewaffneten 27. Armee, die durch die Stadt wütete und gleichermaßen Zivilisten und Soldaten tötete und große Mengen an menschlichen Überresten entsorgte, indem sie sie verbrannte oder niederwalzte.

Und im Jahr 2015 gab ein Fund von diplomatischen Depeschen, die in kanadischen Archiven entdeckt wurden, einen seltenen Einblick in das Entsetzen der in Peking weilenden Diplomaten, die das Blutvergießen oft aus erster Hand miterlebten.

Eine der Depeschen beschrieb die Niederschlagung als "wild", während andere erschütternde Interviews mit Überlebenden und Augenzeugen zitierten, als die Armee mit Panzerkolonnen in das Herz von Peking vordrang und automatische Waffen auf unbewaffnete Zivilisten abfeuerte.

Die Dokumente beschreiben auch Kämpfe zwischen "wütenden", aber unbewaffneten Zivilisten und voll bewaffneten Truppen im westlichen Vorort Muxidi und in Shilipu im Osten des Diplomatenviertels in Jianguomenwai.