10. Dezember 2010

Brief von Tienchi Martin-Liao für die Hamburger Veranstaltung am 10. Dezember 2010 zur Friedensnobelpreisverleihung an Liu Xiaobo


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Tienchi Martin-Liao wurde in Nanjing geboren, sie widmete ihr ganzes Leben dem Kampf um Demokratie und Menschenrechte in China. Sie war Herausgeberin und Redakteurin bei der Laogai Research Foundation in Washington, die die Gefangenenlager und andere Menschenrechtsverletzungen in China erforscht und bloßstellt. Frau Martin-Liao ist Präsidentin des Unabhängigen Chinesischen PEN Zentrum. Sie schrieb eine Reihe von Büchern über kulturelle und soziale Themen in China. Sie tritt häufig in internationalen Medien als Expertin für Menschenrechtsfragen in China auf.

Allen Bemühungen zum Trotz kann Liu Xiaobo heute nicht nach Oslo kommen, um den Friedensnobelpreis entgegenzunehmen. Lassen wir unsere Gedanken über Zeit und Raum springen


Wir sind jetzt bei Liu Xiaobo in seinem Gefängnis. Liu, kahl geschoren, dick verpackt in einer alten wattierten Jacke und einer wattierten Hose, in Schal, Handschuhen und wattierten Schuhen - all das ist nötig in diesem Raum, die Zimmertemperatur ist um den Gefrierpunkt, denn das kleine Fenster unter der Decke ist Tag und Nacht geöffnet. Der Gestank von dem offenen Fäkalienbottich in der Ecke ist etwas erträg-licher geworden wegen der Kälte. Ihm geht's nicht schlecht.

Er wird nicht von den anderen vier Zimmergenossen geprügelt oder drangsaliert, obwohl normalerweise solche Kriminelle recht brutal und grausam sein können. Sie wissen alle, daß Liu etwas besonderes ist, denn die Aufgabe, die man ihnen zugewiesen hat, sei nicht die übliche Anwendung von Faust und Fußtritt, sondern von Augen und Ohren. Sie sollen auf ihn aufpassen und nach oben berichten. Doch wie besonders dieser Liz ist, haben sie keine Ahnung. Daß Liu heute eigentlich bei dem König und der Königin sowie hohen Gästen in Oslo in Norwegen sein sollte, daß ihm die höchste internationale Ehrung und eine große Preissumme überreicht werden, und er eine glänzende und kluge Rede halten sollte - sogar möglicherweise ohne Stottern, das alles ist jenseits ihrer Vorstellungskraft. Alle Zellengenossen scherzen über Lius Stotterei im Alltag, sie wissen nicht, daß es ihm oft gelingt, vor großem Publikum ohne Stot-tern einen Vortrag zu halten.

Liu Xiaobo und seine Frau Liu Xia (RFA)

Liu Xiaobos Gedanken und sein Geist sind heute bei uns. Die Tatsache, daß seine Frau seit fast acht Wochen unter Hausarrest steht und von der Außenwelt abgeschirmt ist, daß niemand aus beiden Familien Liu (Liu Xiaobo und Liu Xia) das Land verlassen darf, um nach Oslo zu kommen, ebenso wenig wie ihm vertraute Persönlichkeiten aus den dutzenden von gleichgesinnten Autoren und Anwälten, die, entweder (wie das euphemistisch heißt) „zum Tee gebeten“, d.h. zum Polizeiverhör vorgeladen und ebenfalls unter Hausarrest gestellt wurden - all dies kann Liu nicht beirren und in seinem festen Glauben an einen freien und demokratischen chinesischen Rechtsstaat. Er wünschte nichts anderes als daß seine Landsleute in einer freiheitlichen und menschenwürdigen Gesellschaft leben dürften und er der letzte politische Gefangene in China sei.

Liu Xiaobos versöhnlicher Ton in seiner Selbstverteidigungsschrift „Ich habe keine Feinde“ wurde von einigen Menschen im Dissidentenkreis falsch interpretiert, nämlich als Kniefall vor der chinesischen Regierung. Solche Behauptungen sind eine

Verdrehung der Tatsachen. Schon 1989, in Lius berühmter „Zweiter-Juni-Bekanntmachung zum Hungerstreik“, betonte er: „Wir haben keine Feinde“. Er ahnte damals nicht, daß Stunden später die Panzer und bewaffneten Soldaten anrückten und das Massaker anrichteten. Doch Lius Auffassung vom gewaltlosen Kampf, sowohl in deinem Denken als auch in seinem Verhalten, ist deutlich belegt in seinen zahlreichen Veröffentlichungen und seinem öffentlichen Auftreten. Aus der Geschichte weiß er, daß Gewalt nur noch mehr Gewalt hervorrufen wird, sie löst keine Probleme. Daher verurteilt er z.B. Chinas Polizei- und Militäreinsatz in Tibet. Die Konflikte und der Haß zwischen Han-Chinesen und Tibetern können nur durch gewaltlose Maßnahmen und Dialog deeskaliert werden. Für eine friedliche Lösung schlägt er daher vor, den in seiner geistigen Autorität über alle ethnischen, kulturellen, religiösen und ideologischen Grenzen hinweg von sehr vielen Menschen respektierten Dalai Lama als Chinas Staatspräsidenten zu benennen. Nur so könne letztlich das Tibet-Problem gelöst werden. Solche mutigen Gedanken und Vorschläge sind nicht einmal unter den liberalen chinesischen Intellektuellen zu finden.

Das norwegische Friedennobelpreis-Komitee hat mit der Preisverleihung an Liu Xiaobo ein Zeichen gesetzt, daß die Welt das selbstverherrlichende „chinesische Modell“ - Liberalisierung der Wirtschaft, Stagnation der politischen Reformen - genauso ablehnt wie die chinesische Bevölkerung. Trotz Bedrohungen durch die offiziellen volksrepublikanischen Regierungsstellen hat das Komitee diese mutige Entscheidung getroffen.

Das ist eine enorme Anerkennung und Ermutigung für Liu Xiaobo und die chinesische Demokratiebewegung.

An dieser Stelle möchte ich einen Satz an die deutschen Sinologen richten: Kommt heraus aus dem Versteck in der Konfuzius- und Lu Xun-Forschung, befreit euch von der wirtschaftlich motivierten Regimehörigkeit, befaßt euch auch mit Werken von regimekritischen und freiheitsinteressierten Autoren wie Liu Xiaobo und Liao Yiwu, und stellt euch auch der Tibet-Frage. Nehmt euch ein Beispiel am Nobelkomitee, zeigt Mut und Anstand.

Meine Gedanken sind heute bei Euch, liebe Hamburger Freunde, ich wünsche Euch eine fröhliche und anregende Veranstaltung.

Tienchi Martin-Liao