8. August 2005
Handel mit China: Wo bleiben die Menschenrechte?

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"Wirtschaft und Ethik in unseren Beziehungen mit China"

Herr Ulrich Schmid, Neue Züricher Zeitung, hielt dieses Referat anlässlich der von der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft (GSTF) im August 2005 an der ETH Zürich veranstalteten Tibetwoche

Mit freundlicher Genehmigung des Referenten wiedergegeben

In Kiew treffe ich ab und zu einen älteren deutschen Diplomaten, einen vitalen, freundlichen und sehr gescheiten Herrn, der nicht nur mit der Geschichte der exsowjetischen Staaten bestens vertraut ist, sondern sich auch nicht scheut, daraus Maximen für die heutige Politik abzuleiten. Nie, sagte mir dieser Herr vor ziemlich genau einem Jahr, werde die Ukraine den Weg zur Demokratie finden. Nie, und wenn nicht nie, dann doch erst nach Jahrzehnten autoritärer Herrschaft und so manchem Rückfall in die Diktatur. Denn in der Ukraine fehle der zivilisatorisch-kulturelle Unterbau, der Westeuropa zur Demokratie befähigt habe. Die Ideale der Aufklärung seien hier über Jahrhunderte unbeachtet geblieben, das Volk sei doch immer unterdrückt worden, Rechtsstaatlichkeit sei ein Fremdwort, Korruption endemisch, die Kirche habe sich stets der politischen Macht untergeordnet und überhaupt, "der Ukrainer": Er wolle doch im Grunde gar keine Demokratie, er wolle Wohlstand und Ruhe, sonst nichts. Und davon mal ganz abgesehen, sei es doch wirklich nicht an uns, den Leuten hier dreinzureden, der Ukraine unsere Werte zu oktroyieren. Das gehe doch nicht an, das sei eurozentristisch, kulturegomanisch, arrogant. Natürlich wolle der Kutschma und seine Kamarilla nicht in Schutz nehmen, aber vielleicht müsse der Westen eben doch langsam einsehen, dass wohl jedes Volk die Führung habe, die ihm kulturell entspreche, strenger gesagt: die es verdiene.

Was dann geschah, wissen Sie. Die orange Revolution kam und siegte, junge Ukrainer und die Millionen, die hinter ihnen standen, entfernten unter grösstem Einsatz das korrupte Regime Kutschmas, und nichts, das versichere ich Ihnen, nichts hätte die jungen Revolutionäre mehr erzürnt als der Hinweis, dass die Werte, für die sie kämpften, ja ihr Leben riskierten, nicht die ihren seien, sondern europäische, ihnen fremde, Werte, die sie im Grunde nichts angingen und von denen sie gefälligst die Finger lassen sollten. Sie haben, auch wenn der neuen Regierung noch vieles misslingt, das Land ein gewaltiges Stück vorwärts gebracht, und ihre Errungenschaften werden das Land für Jahrzehnte prägen.

Das auffallendste Merkmal der jungen Revolutionäre von Kiew aber ist ihre Modernität. Die Stundenten der Mohyla-Universität haben Opposition gemacht, aber mit den Oppositionellen von damals, den bärtigen Dissidenten, die nachts in der Küche Wodka schlürften, die Gitarre zupften und an ihren Strategien des Widerstands herumträumten, haben sie nichts gemein. Die neuen Revolutionäre sind Leute von heute: Sie hängen irritierend lange und gerne am Handy und am Internet, sie sind so cool, wie sich das nun einmal gehört, weitgehend angstfrei, und an Mode und Musik sind sie fast so sehr interessiert wie an der Gerechtigkeit. Dass sie damit internationaler, wenn sie so wollen: globaler geworden sind, stört sie nicht. Ihr unbekümmertes Selbstbewusstsein ist erschütternd, und es gleicht auffallend dem ihrer Altersgenossen in anderen Ländern.

Zu Beispiel dem der jungen Leute in Schanghai. Ich war diesen Sommer wieder einmal in der chinesischen Wirtschaftsmetropole, und natürlich war ich, wie jeder Besucher, tief beeindruckt von der faszinierenden, erregenden Dynamik der Stadt, die täglich ein neues Manhattan zu kreieren scheint. Doch den nachhaltigsten Eindruck haben, wieder einmal, nicht die Wolkenkratzer hinterlassen, sondern die fast mit Händen zu greifende Veränderung in der Geisteshaltung der Bürger. Emanzipatorische Ansprüche wachsen rascher als Hochhäuser. "Der Chinese", um im herablassenden Singular unseres Diplomaten in Kiew zu sprechen, scheint seine angeblich in den Jahrtausenden geprägte, angeblich so unveränderliche Mentalität sehr rasch verändern zu können. Die Schanghaier Jungen tragen nicht nur die gleichen Kleider wie ihre Altersgenossen in Kiew und lauschen den Klängen der gleichen Handy-Klingeltöne mit der gleichen Verzückung, sie denken immer mehr auch über die gleichen Themen nach, und mein Eindruck ist, dass sie sehr ähnlich auf die Probleme reagieren, die vor ihnen auftauchen. Das Zauberwort bei alledem, wie könnte es anders sein, heisst: Ich. Es ist das alte, fordernde, legitimitätsheischende und gewiss nicht unproblematische Ich der Aufklärung.

Doch noch einmal kurz zurück nach Kiew. Das Interessanteste an meinem Diplomatenfreund ist wohl, dass er bei Gelegenheit auch ein ausgesprochen scharfer Kritiker des Totalitarismus ist. Er hasst die Nazis, er hat sie erlebt, und wenn er über sie spricht, bin ich immer wieder beeindruckt, mit wie viel Selbstkritik und moralischer Akribie er selbst dem verborgensten und unauffälligsten Versagen seiner Landsleute nachspürt.

Eine Ehre, die er anderen Ländern und anderen Völkern anzutun offenbar nicht gewillt ist. Und er ist damit nicht allein. Messen mit unterschiedlichen Ellen ist heute, was China angeht, zur intellektuellen Mode geworden. Was bei uns ein Skandal ist für jeden sensiblen Zeitgenossen, mutiert, wenn es China betrifft, zur Bagatelle.

Zunächst zu den Fakten. In China werden die Menschenrechte mit Füssen getreten, immer noch und wenn nicht alles täuscht, immer mehr. Denkt man an das moderne, wirtschaftlich aufstrebende China, das China der Hochglanzbroschüren, das man bei uns so liebt, dann scheint das auf den ersten Blick ein Widerspruch zu sein. Gezeigt werden vornehmlich fröhliche, selbstbewusste, modische, meist konsumierende Menschen inmitten atemraubender urbaner Szenarien, Menschen, die das, was sie wollen, meist auch erhalten und darüber glücklich sind. Eine Ausnahme sind die Sequenzen in den Abendnachrichten, welche die fleissige Näherinnen zeigen, die der EU und Amerika soviel Kopfzerbrechen bereiten – sieht man, mit welch roboterhafter Geschwindigkeit und Präzision sie ihre Arbeit tun, bekommt man eine Ahnung davon, wie hart das Leben in China sein kann. Doch dies sind Ausnahmen. Das Chinabild der heutigen Medien – vom Fernsehen über Newsweek und Time bis hin zu den Modemagazinen – ist bis zur Penetranz gesättigt von positiven Klischees.

Doch diese Fassade täuscht. Die gelassene, freiheitliche Normalität, die sie so kraftvoll suggeriert, gibt es in China nicht. Hochhäuser, Banken und Shopping Malls, Handys, Internet-Cafés und multimediale Spasskultur, die auffallendsten Attribute der Globalisierung, machen noch keine Demokratie, und die Einhaltung der Menschenrechte garantieren sie sowieso nicht. Chinas Bürger dürfen arbeiten, Geld verdienen, konsumieren und investieren, aber ihre Regierung dürfen sie noch immer nicht wählen. Sie dürfen sich nicht frei versammeln, sie dürfen auf dem Internet nicht frei surfen, und wenn ihre Meinung nicht die gleiche ist wie die der Herrschenden, dann verzichten sie meist darauf, sie zu äussern. Angst ist nach wie vor eine sehr bestimmende Emotion in China. Wer in China auf den Hauptplatz marschiert und lauthals das Regime kritisiert – wer also den Freiheitstest des einstigen Sowjetdissidenten Natan Sharansky anwendet –, wird bald auf Kerkerwände starren. Es gibt in China keine Form des legitimen Dissenses. Die Justiz spricht nicht Recht, sondern sichert die Herrschaft der Partei. Unzählige haben ihre Freiheit in den letzten Jahren wegen «konterrevolutionärer Umtriebe» verloren. In keinem Land gibt es mehr politische Gefangene. Offizielle Tausende, in Wirklichkeit wohl Zehntausende, werden jährlich hingerichtet, viele nach zweifelhaften Prozessen. Hunderttausende darben in Gefängnissen, in Straf- und Umerziehungslagern. Nein: Chinas kommunistische Führer sind nicht die aufgeklärten Herrscher, als die sie sich geben und als die sie in vielen westlichen Medien vorgestellt werden. Wir haben es mit einem menschenverachtenden, anachronistischen Regime von etwa 200 meist ziemlich alten Männern zu tun, das jeglicher demokratischer Legitimation entbehrt, das vor nichts zurückschreckt und das vor nichts zurückschrecken wird, wenn es sich einmal ernsthaft gefährdet sehen wird.

Bin ich zu streng? Ist in letzter Zeit nicht immer öfter von Kritik und erlaubtem Widerspruch zu hören? Westliche Kurzzeitbesucher berichten mir von "äusserst interessanten" Gesprächen mit jungen Sozialwissenschaftern, die mit "ausgesprochen originellen" Ideen aufgewartet hätten, mit kreativen, lustigen, frechen, also man könnte fast sagen: demokratischen Ideen. Das sei sehr schön und das gebe nun doch wirklich Anlass zu Hoffnung. Nun ja. Ich habe da meine Zweifel. Wer die vermeintlich regimekritischen Äusserungen von Umweltschützern oder jungen Think-Tank-Soziologen für erste Regungen eines erwachenden Pluralismus hält, unterschätzt den Sinn der Regierung für taktische Finesse. Was sich geändert hat im vergangenen Dezennium ist die Fähigkeit der kommunistischen Kader, westliche Besucher mit originellen, oft erstaunlich modern klingenden Überlegungen zu bezirzen. Die Westler kriegen genau das zu hören, was sie hören wollen, und meist gelingt die Täuschung perfekt. Da tue sich etwas in den Köpfen der Führenden, heißt es dann, da würden ganz große Pläne geschmiedet, und da herrsche ein Einsehen, das gehe ja über das vieler Europäer hinaus. Und dann eilen sie weg zum Flughafen, die Damen und Herren Besucher, denn nun gilt es, die Kunde von den reformwilligen Chinesen in alle Welt zu tragen. Nur die reale Lage, die Lage derer, die in den Lagern sitzen, die Lage derer, die auf die Hinrichtung warten oder auf den Polizeistationen zu Krüppeln geschlagen werden: die hat sich nicht verändert.

Opposition, die sich in westlicher Begleitung befindet, wird nach Möglichkeit rhetorisch ausgefedert. Dass man die Falun-Gong-Anhänger, die auf dem Tiananmen-Platz demonstrierten, vor den Augen entsetzter Amerikaner einfangen und an den Haaren in Bereitschaftswagen zerren musste, dürfte die kommunistische Führung arg geschmerzt haben. So will sie sich heute nicht mehr präsentieren. Doch abseits der Kameras geht es noch immer martialisch zu. Ich erinnere an das Schicksal der Aktivisten der Demokratischen Partei Chinas: Klug und geduldig versuchten sie, in absoluter Offenheit und unter strengster Einhaltung sämtlicher Gesetze ihr Verfassungsrecht auf Parteigründung durchzusetzen. Jeden ihrer Schritte veröffentlichten sie auf dem Internet, jede ihrer Versammlungen war öffentlich, in jeder Provinz versuchten sie sich bei den Behörden zu registrieren. Nichts von dem, was sie taten, sollte in den Verdacht des Subversiven geraten. Was sie wollten, war Friede, Demokratie und Marktwirtschaft. Genützt hat es ihnen nichts. Sie wurden verhaftet, ihre Führer sitzen allesamt im Gefängnis, und freikommen werden sie frühestens in fünfzehn oder zwanzig Jahren.

Allem schönen Schein zum Trotz: Es ist nicht richtig, dass die Besserung in China just around the corner ist, es ist nicht richtig, dass die Kommunisten nichts sehnlicher erwarten als ihre Selbstentmachtung. Dass man im Westen fast nur noch über das neue, moderne, vermeintlich fast schon demokratische China spricht, ist sicher einer der grössten Erfolge der Kommunisten in Peking.

Aber warum reden wir heute so ungern über das diktatorische China? Ich sehe zwei Hauptgründe: unsere materialistische Gier und den Widerwillen vieler Intellektueller, fremden Kulturen gegenüber besserwisserisch aufzutreten und "grundsätzlich Anderes" an westlichen Ellen zu messen.

Erst einmal zur Wirtschaft, besser gesagt zur Aussicht auf diesen sagenhaften 1,4-Milliarden-Markt, der die Phantasie von Unternehmern und Politikern endlos befeuert und uns das Wegsehen so leicht macht. Länder, die China hartnäckig auf die Menschenrechtsproblematik hinweisen, sind doppeltem Druck ausgesetzt: dem Druck Pekings und dem Druck der grossen Firmen, die in China arbeiten wollen. Natürlich gibt das keine Regierung zu, aber Tatsache ist, dass die Manager der grossen Multis viel Zeit und Geld aufwenden, um ihre Regierungen zu jenem "höflichen" Umgang mit Peking zu veranlassen, den sie als profitabel betrachten. Dies geschieht überall, auch in der Schweiz, in der Schweiz sogar besonders ausgeprägt.

Natürlich ist es vielen, auch vielen Diplomaten nicht ganz wohl bei dieser Geschichte, und quasi kompensatorisch werden dann andere, kleinere, wirtschaftlich unbedeutendere Länder abgestraft. Vielen Regierungen, die sich vor Peking verbeugen, geben die Sünden kleiner, unwichtiger Länder Anlass zu entrüsteten Protesten und harten Sanktionen. Das Beispiel Kuba liegt am nächsten. Wie trefflich lässt sich am fernen karibischen Objekt die einwandfreie Gesinnung beweisen! Denn an und für sich – immer wieder kommt es in den Debatten hoch, dieses vertrackte "an und für sich" – an und für sich ist man ja durchaus für die Einhaltung der Menschenrechte. Natürlich liegt es mir fern, das Regime in Havanna zu verteidigen – es verdient die Kritik, die ihm zuteil wird, durchaus. Aber im Vergleich zu dem, was die KP Chinas ihren Untertanen im Namen von Freiheit, Gleichheit und Fortschritt antut, nehmen sich ihre Verbrechen Castros so bescheiden aus wie die Zunfthäuser an der Limmat neben den imperialen Bauten der Verbotenen Stadt. Nein, es geht um uns und um unsere Heuchelei.

Der zweite Mechanismus ist komplexer, aber auch interessanter. Denn nicht nur von Intellektuellen wie von meinem deutschen Freund in Kiew ist das Argument oft zu hören, es sei unzulässig, fremde Kulturen in Frage zu stellen. Nein, auch viele Geschäftsleute verweisen auf den Respekt, den wir anderen Kulturen und ihrer Geschichte schulden und auf die Mentalitätsunterschiede, die es uns unmöglich machten, Chinesen fair zu beurteilen. Immer wieder bin ich auf Europäer gestossen, die sich instinktiv scheuten, selbst die grausamsten Verbrechen zu kritisieren, weil sie fürchteten, politisch unkorrekt zu sein. Dies ist vor allem bei Deutschen durchaus nachvollziehbar: Sie haben erlebt, wie rasch die eigene Kultur barbarische Mordmechanismen entwickelte, und sie sind bescheidener geworden. Das ist auf der einen Seite zu begrüssen. Dass man diese Bescheidenheit aber zum Anlass nimmt wegzuschauen, wenn Menschen gefoltert und umgebracht werden und darin dann auch noch eine Tugend sieht: das ist mehr als bedauerlich. Das Gegenteil wäre zwingend: dass man, klug geworden aus schmerzlicher Erfahrung, überall da hellhörig wird, wo Menschen leiden. Ist Ihnen im übrigen auch aufgefallen, dass dass die Leute, die solche Überlegungen anstellen, immer, ohne Ausnahme, darauf hinweisen, dass sie die Menschenrechte "eigentlich" ja durchaus schätzten und hochhielten, zumindest hier, bei uns, in Europa. Hier verschleiert sich der perfide Rassismus dieser vermeintlich ehrerbietigen Haltung dann nur noch sehr notdürftig. Dass die Chinesen an anderen Orten – in Taiwan, in Hongkong, in den demokratischen Ländern der Diaspora – sehr wohl demokratiefähig sind, dass also die Demokratieunfähigkeit durchaus kein chinesisches Gen zu sein scheint, geht vergessen. Und wohlgemerkt: All dies geschieht im Namen einer satten, respektierlichen Wohlanständigkeit. Die Leute, die die Untaten der chinesischen Führung erklären, relativieren und entschuldigen, sind nicht selten dieselben, die sich entrüstet in die Brust werfen, wenn an ihrer demokratischen eidgenössischen Grundgesinnung gezweifelt wird.

Natürlich ist dieser Versuch, Verbrechen auf ethnischer Grundlage zu relativieren, himmelschreiender Unsinn. Dass eine solche Haltung das Leiden der Dissidenten und Demokratiefreunde, die ja auch Chinesen sind, nicht ernst nimmt, ist noch das wenigste. Übersehen wird auch, dass die Menschenrechte unteilbar sind und dass Mord und Totschlag Mord und Totschlag bleiben, auch wenn sie von Nichteuropäern verübt werden. Fragen Sie die Hinterbliebenen der Millionen, die von den chinesischen Kommunisten bedrängt, gefoltert und getötet wurden. Kritik an Diktatur, Willkür und Terror ist NICHT Kritik an einer Kultur; wir sind NICHT eurozentrisch, wenn wir Diktatur, Willkür und Terror kritisieren. Ich habe den grössten Respekt für die chinesische Kultur, ich mag die Chinesen. Wann immer ich kann, reise ich nach China. Ich liebe das Land, ich fühle mich wohl in der grenzenlosen chinesischen Liebenswürdigkeit, ich liebe die Sprache, auch wenn sie mir arge Mühe bereitet. Ich bewundere die Kraft, die Geduld und den Erfindungsgeist der Chinesen, und dass ich kein Freund der Peking-Ente bin, hat nichts mit Voreingenommenheit zu tun – ich mag auch in der Schweiz nichts Fettes, und die tschechischen Knödel, denen ich jetzt ausgesetzt bin, versetzen mich auch nicht in Ekstase.

Ich sehe auch durchaus die Leistungen der Regierung, die legitimatorischen Charakter haben. Peking lässt sich von einer gewissen wirtschaftlichen Vernunft leiten, versucht manchmal, nicht immer, Probleme rational zu lösen und hat Marktkräfte freigesetzt, von denen Millionen profitieren. Ich anerkenne das. China ist weder Nordkorea noch Myanmar; chaotisches, verblendetes Stümpertum kann man den Kommunisten in Peking gewiss nicht vorwerfen. Die Kommunisten sind pragmatisch, im Guten wie im Schlechten. Aber Fehlleistungen gibt es dennoch zuhauf, und es zeugt keineswegs von einer Geringschätzung Chinas, wenn man auch die Geplagten und die Dissidenten ernst nimmt. Jede Unmenschlichkeit findet notgedrungen in einem zivilisatorischen Umfeld statt. Hitler war Europäer; dass er Europäer war, negiert nicht die Errungenschaften europäischer Kultur. Ich schätze und respektiere die deutsche Kultur, obwohl ich weiss, dass sie nebst Goethe, Beethoven und Einstein auch den Holocaust hervorgebracht hat. Ich kenne keine Frau, die die rituelle Klitorisbeschneidung, die noch heute in vielen Ländern üblich ist, mit dem Hinweis auf kulturelle Besonderheiten entschuldigte. Menschlichkeit zu fordern und sich dafür einzusetzen heisst nicht, Kulturen gering zu schätzen. Wir werden China nicht gerecht, indem wir wegsehen und schweigen. Im Gegenteil: Die Aussagen chinesischer Führer unbesehen in eine Art intellektuellen Schonbezirk zu verbannen: dies ist eine Form der Geringschätzung, eine Form des Rassismus.

Die Verwirrung, die in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren entstanden ist, ist beträchtlich, und es hat den Anschein, als nehme sie zu. Selbst anerkannte westliche Blätter neigen heute dazu, die Verbrechen der chinesischen Führung zu bemänteln oder einfach zu übergehen. Im Gleichschritt mit der Medienbeachtung, die China zuteil wird, hat das Niveau der Berichterstattung abgenommen. Menschenrechtskritik ist aus der Berichterstattung vieler europäischen Blätter praktisch völlig verschwunden. Bei den Amerikanern sieht es noch etwas besser aus, aber der Trend ist der gleiche. Viele Korrespondenten pendeln nur noch zwischen Peking und Schanghai hin und her, vergessen das darbende Hinterland und die besetzten Gebiete wie Tibet und Xinjiang komplett und sehen ihre Aufgabe offenbar vornehmlich darin, das Hohelied des kommunistischen Kapitalismus zu singen. Applaudiert von der Wirtschaft, konzentriert man sich auf die angenehmen, intellektuell nicht weiter anspruchsvollen und so wunderbar leicht vermittelbaren Themen: Wirtschaftswachstum, Mode, Sport. Philosophen wie Bernard Henry Lévy, die darauf hingewiesen haben, dass wir drauf und dran sind, uns im Namen einer absurden politischen Korrektheit zu Apologeten des Terrors und der Unterdrückung zu machen, werden geflissentlich überhört.

Und doch funktioniert die Nummer beängstigend gut, selbst im akademischen Milieu. Mit Erfolg hat Peking nackte Repression zu einer Frage der Etikette gemacht. In Genf spielt die Uno-Menschenrechtskommission seit Jahren nur noch eine Posse und macht eine wahrhaft erbärmliche Figur. Immer leichter kann Peking die Unterdrückungspolitik gegen Tibeter und der Uiguren der Welt als Kampf gegen den Terror verkaufen.

Aber wie ist das nun, wenn Chinesen emanzipatorische Forderungen übernehmen, die einst in Europa formuliert wurden? Erstens ist zu betonen, dass es ihnen freisteht, das zu tun. Wir Westler bedienen und auch aus dem reichen Fundus fernöstlicher Religion und Philosophie, vom Buddhismus bis zu Tai Chi, und niemandem würde es einfallen, uns deswegen zu rügen. Zweitens sind Ideen wie Demokratie und Menschenrechte ja längst nicht mehr in europäischem Besitz, sondern, wie Hermann Lübbe jüngst betont hat, globales Allgemeingut geworden. Die Kiewer Studenten und die Schanghaier Dissidenten wissen sehr viel mehr über Locke, Hume, Diderot, Rousseau oder Betrand Russell als Herr Müller, der am Stammtisch in Schwammendingen über die Freiheit und diese gottverdammten Ausländer räsoniert. Die geistige Grundlage und die Sprachregelung der Uno ist nun einmal die der europäischen Aufklärung: Gefordert werden, auch von blutrünstigen Diktatoren, stets nur Menschenrechte, allenfalls Gruppenrechte. Noch nie habe ich einen Politiker vor der Uno in New York das Recht auf Unterdrückung, Folter und Genozid einklagen hören. Und das ist ja gerade das Grossartige. Es gibt, man kann es nur immer wieder betonen, keine Europäerrechte, Amerikanerrechte und Chinesenrechte: Es gibt einzig und allein Menschenrechte. Sich auf sie zu berufen, steht allen frei, auch Tibetern, auch chinesischen Dissidenten. Sie zu relativieren heisst, sie abzuschaffen.

Was aber können wir tun? Was können Bürger, Regierungen, Organisationen, staatliche und nichtstaatliche, tun, um die Menschenrechte in China voranzubringen?

Nun, ich will ganz offen sein: nicht allzu viel. Gestehen wir's uns getrost ein: Im Falle Chinas sind uns die Hände gebunden. Ich glaube ganz einfach nicht, dass der Westen heute noch in der Lage ist, China wesentlich zu beeinflussen. Das allerdings ist kein Plädoyer für Passivität, wie ich später noch erläutern werde.

Ich bin grundsätzlich kein Anhänger von Repressionen und Sanktionen. Solche Aktionen nützen im allgemeinen wenig. Nehmen Sie den Fall von Myanmar, dem einstigen Burma. 17 Jahre sind seit den grossen Massakern an Regimegegnern vergangen, und 15 Jahre ist es her, seit die Generäle das Ergebnis der Wahlen ignorierten und die grosse Repression einleiteten, die bis heute anhält. Der Westen hat Sanktionen verhängt, hat gerügt, ermahnt, gedroht, hat seine Diplomaten abgezogen, Investitionen zurückgehalten – was hat es gebracht? Nichts. Dies sollte uns eine Lehre sein. Wenn der Westen nicht einmal das kleine Myanmar zur Räson bringen kann, dann wird er auch im Falle von China nichts erreichen.

Das diplomatische Engagement der westlichen Regierungen halte ich in seiner jetzigen Form für falsch, ja kontraproduktiv. Ganz besonders schädlich ist in meinen Augen der sogenannte Menschenrechtsdialog, so, wie er heute von praktisch allen westlichen Regierungen geführt wird. Nichts schadet den Dissidenten und der demokratischen Entwicklung Chinas so sehr wie diese unwürdige, in vielen Zügen lächerliche Scheindebatte.

Erstens, weil sie nichts nützt. Nie wurde der Dialog intensiver geführt als in den letzten zehn Jahren, und nie, die Kulturrevolution ausgenommen, stand es um die Menschenrechte in China schlechter als heute. Natürlich kann man sich anhören, was ein paar begeisterte Bürokraten, die gerne ab und zu auf Staatskosten nach Peking fliegen, zu erzählen haben, und es liegt mir fern zu behaupten, dass sie nicht manchmal, in Einzelfällen, auch schöne Erfolge aufzuweisen haben. Aber verbindlich ist bei diesem Thema nur eines: das, was die Profis zu sagen haben, Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch. Und da sieht es dann leider ganz anders aus. Ich kenne diese Leute, sie sind nicht voreingenommen, sie rekrutieren sich zu einem großen Teil aus wachsamen, vielleicht darf ich sagen: reif gewordenen ehemaligen Achtundsechzigern, und sie neigen eher zu einem toleranten Linksliberalismus als zu blindwütiger Kritik an kommunistischen Regimes. Amerika, Sie wissen es, wird von diesen Menschen genauso scharf kritisiert. Ich habe hier den jüngsten Country report von AI bei mir: Er macht in niederschmetternd klarer Weise deutlich, dass sich die Lage in China auch 2004 nicht verbessert hat, am allerwenigsten für die ethnischen Minderheiten. Noch immer werden Tibeter und Uiguren erbarmungslos unterdrückt, und vermutlich ist die Repression noch viel grösser, als wir annehmen, denn in diesen riesigen Gebieten gibt es keine unabhängigen Medien. Und wie Sie wissen: Ereignisse finden nur da statt, wo über sie berichtet wird.

Schädlich ist der Menschenrechtsdialog, zweitens, weil er das Thema schubladisiert. Unangenehmes wird Delegationen überantwortet, und das entbindet die hohen Politiker von der Aufgabe, es anzusprechen. "Überlassen wir das den Herren Experten, die kennen sich in diesem Dossier besser aus", sagen die europäischen Politiker noch bei der Begrüßung auf demFlughafen zu ihren kommunistischen Gastgebern, und die hören es gerne. An Pressekonferenzen kommen dann die Menschenrechte kaum noch zur Spreche, und wer dennoch danach fragt, wird hinterher liebenswürdig in die Mangel genommen – meist von erzürnten Westlern, nicht von Chinesen. Solchermassen an den Rand gedrängt, verkommt die Debatte über die Rechte der Menschen und die Pflichten der Regierungen zum Hobby skurriler Einzelgänger.

Abgeschafft gehört der Dialog, drittens, weil er die chinesischen Herren aufwertet und zum respektablen Partner in einem Dialog macht, in dem es nicht um den Austausch unterschiedlicher, aber im Grunde gleichwertiger Ansichten geht, sondern um den Kampf um Menschenwürde. Seht her, sagen dann die Kommunisten: Wir reden mit den Westlern, ganz von gleich zu gleich, und dass unsere Ansichten auseinandergehen, ist ja nur natürlich. Kleine Meinungsverschiedenheit eben, üblich im Pluralismus, üblich unter Erwachsenen, ein Zeichen der Reife. Im Grunde ist schon die Bezeichnung "Menschenrechtsdialog" ein Unsinn sondergleichen. Über Menschenrechte kann nicht im Ernst kontradiktorisch debattiert werden – Sie können sich den Diskurs vorstellen: "Ach so, Herr Wen, Sie sind für Folter und Hinrichtungen? Wie ungemein interessant. Also wir, zum Beispiel, sind eher für Gewaltfreiheit. Wäre das nicht auch etwas für Sie?" Enorm stossend bleibt in diesem Zusammenhang, dass unsere Regierungen mit Leuten wie dem Schlächter von Peking, Li Peng, über die Dissidenten reden, als seien diese das Problem. Wie ausgesprochen ärgerlich, diese Menschenrechtsaktivisten, diese Journalisten und Bürgerrechtler! Wie wäre es, den Spiess einmal umzudrehen? Mit den Dissidenten das Gespräch aufzunehmen, und zwar ganz offiziell, für sie die roten Teppiche auszurollen – sie haben es verdient – und mit ihnen über das Problem Peking zu sprechen? Wenn unsere Regierungen DAS wagten, wäre viel gewonnen. Aber machen wir uns keine grossen Hoffnungen.

Noch wichtiger aber ist, viertens, dass ein routinierter, institutionalisierter Menschenrechtsdialog den zynischen Tauschhandel fördert. Seit Jahren lassen sich die Kommunisten ihre "Gutmütigkeit" teuer bezahlen, und schon so mancher scharf beobachtende Westler konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als entdecke er auf dem Antlitz der kassierenden Kommunisten ein verächtliches Grinsen. Bush kommt nach Schanghai, das ruft nach einer Klimaerwärmung, also werden zwei tibetische Dissidenten freigelassen. Die Medien melden es in gebührender Lautstärke, und die Amerikaner, und mit ihnen die Europäer, kommen aus dem Jubeln nicht mehr heraus: Schaut her, da tut sich was, hier brechen verkrustete Strukturen auf, hier keimen die ersten Schosse einer neuen Liberalität. Und noch während Bush, eingekleidet ins blauseidene Hemdchen, seine fein dosierten Freundlichkeiten von sich gibt, werden neue Dissidenten festgenommen: neue Verhandlungsmasse, die dem Westen schon bald neue Jubelschreie entlocken wird.

Die Mehrheit der Dissidenten steht dem Menschenrechtsdialog ausserordentlich kritisch gegenüber, mit guten Gründen. Dass sie ihn, so wie er heute geführt wird, ablehnen, heisst natürlich nicht, dass sie für ein Verstummen des Westens plädiere. Im Gegenteil. Unsere Regierungen sollten sich durchaus zu China äussern, nur eben anders. Wirkungsvoller und ehrlicher wäre ein Zurückgehen auf die Politik der ernsten Demarche, der seltenen, aber nachhaltigen öffentlichen Ermahnung durch Regierungs- und Staatschefs, die allen Chinesen klar machte, dass ihre Führer im Westen nicht auf Erbauung stossen. Und damit meine ich nun gewiss nicht Anpöbelei oder irgendeine Form der Unhöflichkeit, auch keine herablassende Belehrung, sondern ganz einfach eine klare Sprache: die Rückbesinnung auf die Werte, für die wir eintreten. Es ginge auch ohne rote Teppiche und die Militärkapellen, die Chirac so liebt, und ab und zu könnte man auch auf einer öffentlichen Pressekonferenz bestehen, bevor man den nächsten Exportkredit bewilligt. Würden die chinesischen Führer den Europäern eine derartige Neuorientierung übel nehmen? Herrje ja, das würden sie. Sie würden grollen und vielleicht sogar etwas wüten, aber dann würden sie, gescheit und pragmatisch wie sie sind, die Geschäfte weiterführen. Halt: Zuerst würden sie versuchen, die westlichen Akteure zu spalten, würden jene belohen, die zurückbuchstabieren, und jene bestrafen, die hart bleiben. Und damit, glauben Sie mir, hätten sie auch sofort Erfolg. Die Chance, dass unsere westliche Regierungen in den kommenden Jahren zu einem neuen Diskurs mit China finden, ist klein.

Weit mehr traue ich auf diesem Feld den unabhängigen Organisationen zu, vor allem der Menschenrechtsgruppen. Die konkrete Wirkung ihrer Arbeit ist natürlich genau so schwer zu beurteilen, doch ich bewerte sie weit positiver, vor allem, weil sie ohne die erniedrigenden Verrenkungen und Pirouetten der Diplomatie auskommt. Sie sind unten, bei den Grassroots, bei den Menschen. Wichtig ist ihr Insistieren vor allem deshalb, weil alle, die in China für Menschenrechte und Demokratie kämpfen, und alle unterdrückten Ethnien wissen müssen, dass sie nicht allein sind. Ich habe fast acht Jahre meines Lebens in Russland und China gelebt und dabei vielleicht so etwas wie eine Ahnung dafür entwickelt, was es heisst, isoliert zu sein, abgeschottet, fern vom Rest der Welt. Und deshalb müssen wir über die Missstände in China reden: mit der Führung in Peking, mit den Dissidenten selber, an Kongressen, im Cyberspace, wo auch immer. Das Thema darf nicht einfach verschwinden. Die chinesische Regierung muss immer wieder zu hören bekommen, dass das, was sie tut, nicht akzeptiert wird. Mord und Folter und Ächtung der Demokratie dürfen nicht zur Quantité négligeable im öffentlichen Diskurs werden. Last, not least geht es ja auch um unsere Psychohygiene: Westliche Tugenden zu predigen und im Stillen darauf zu hoffen, dass China ruhig, einschätzbar und despotisch bleiben wird, ist eines Demokraten nicht würdig.

Veränderungen werden kommen in China, keine Frage. Aber erzwungen werden sie nicht von uns, sondern, genau wie in der Ukraine, von der rasch wachsenden chinesischen Mittelschicht. China will Wohlstand und Handel, China drängt zur Moderne, und die ist ohne Bürgergesellschaft nun einmal nicht zu haben. Der Wirtschaftsboom führt die Volksrepublik unweigerlich näher an der Rest der Welt, und mit den Exporten und den Importen gedeiht auch die soziale Schicht, die Änderungen erzwingen wird. Wohlstand bringt Anspruchsdenken, Anspruchsdenken bringt Demokratie. Wer Güter, Häuser und Kreditkarten besitzt, verlangt Rechte. Wer sich per Internet die Welt in die Wohnstube holen kann, wird neugierig. Wer in seinem Alltag das Auswählen gewohnt ist, wird nicht verstehen, warum er seine politische Führung nicht selber wählen darf. Der technische Fortschritt, der vom wirtschaftlichen nicht zu trennen ist, wird ein übriges zur Erosion des Kommunismus beitragen: Internet und Handy haben in autoritären Systemen durchaus revolutionären Charakter. Wie alle autoritären Herrscher kreieren die chinesischen Machthaber die Bedingungen ihres Unterganges selber, und wenn man beobachtet, wie hingebungsvoll sie an der Umwandlung ihres Landes arbeiten, fragt man sich manchmal, ob ihnen bewusst ist, dass sie die Geister, die sie gerufen haben, nicht mehr loswerden.

Der Westen beschleunigt durch sein Engagement mit China diesen Prozess ganz wesentlich, egal, ob er dies will oder nicht. Verstehen Sie mich bitte richtig: Ich bin absolut nicht der Ansicht, dass es Aufgabe unserer Firmen ist, Menschenrechtspolitik zu machen. Das dürfen sie getrost den Politikern und den Aktivisten überlassen. Doch jeder noch so kleine Akt merkantiler Zivilisiertheit erodiert die Legitimität der Kommunisten. Auf Dauer können westliche Firmen in China nur erfolgreich operieren, wenn sie einen verlässlichen Rechtsrahmen vorfinden. Das betriebswirtschaftliche, forschungstechnische und administrative Know-how, das westliche Unternehmen mitbringen, verbreitet sich in China in Windesweile, mitgetragen von der WTO, der Welthandelsorganisation, und es ist von enormer sozialer Sprengkraft. Etwas Subversiveres als den westlichen Geschäftsmann gibt es in China nicht. Die ausländischen Investoren stehen dem chinesischen Zauberlehrling hilfreich zur Seite, indem sie in ihren Betrieben Menschen heranziehen, die Wissen ebenso eifrig anhäufen wie Besitz, die kritisch denken und die mit den alten Parolen nicht mehr lange abgespeist werden können. Natürlich gibt es schwarze Schafe, natürlich gibt es westliche – und asiatische Firmen –, vor allem im Textilsektor, die unter sehr zweifelhaften Bedingungen produzieren lassen. Doch selbst diese Firmen behandeln ihre Angestellten im allgemeinen mindestens so gut wie ihre chinesischen Konkurrenten, und wenn sie zum allgemeinen Wirtschaftswachstum beitragen, sind selbst sie in einem gewissen Sinne revolutionär.

Und an dieser Stelle muss ich jetzt wirklich eine Lanze brechen für westliche Unternehmen, ganz besonders auch Schweizer Unternehmen. Ich habe viele solche Betriebe besichtigt, ich habe mich gewissenhaft umgesehen, und ich kann sagen, dass sie im allgemeinen nicht nur gute Löhne zahlen und vorbildliche Sozialleistungen erbringen, sondern auch viel westliche Unternehmenskultur nach China tragen. Sicher, doppelte Buchhaltung kommt vor. Sicher, viele Betriebe lassen ihre Joint-Venture-Partner Probleme mit Methoden erledigen, für die in der Schweiz die Staatsanwaltschaft zuständig wäre. Aber sowohl bei mittelständischen als auch bei grossen Investoren habe ich viel guten Willen und Gewissenhaftigkeit festgestellt, und auch die Firmen, die aus China importieren, legen in der Regel grossen Wert darauf, dass ihre Partner auf annehmbare Art produzieren. Chinesen reissen sich darum, bei Westlern zu arbeiten, und dies nicht nur aus finanziellen Gründen. Aus diesem Grunde sehe ich also den Handel mit China fast durchwegs positiv.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal kurz auf die Ukraine zurückkommen. Sie wissen es: Die EU und fast alle grösseren europäischen Staaten hatten zunächst gar keine Freude an Juschtschenko und seinen demokratischen Freunden. Sie störten. Sie riefen so penetrant nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sie gingen den Brüsseler Bürokraten auf die Nerven. Man schnitt sie, wo man konnte, und als s zur Präsidentenwahl kam, setzte man wenn nicht offen, aber deutlich genug auf Kutschma – ganz einfach, weil Kutschma der Günstling des Kremls war und man es mit den Russen nicht verderben wollte. Welche Ratlosigkeit, welche Betretenheit, als dann die Demokraten doch siegten! Eiligst sandte man Solana nach Kiew mit dem Auftrag, zu retten, was noch zu retten war. Viel war es nicht: Die neuen Herren in Kiew liessen ihn deutlich spüren, was sie von ihm hielten. Die Präsidenten Polens und Litauens waren es, die den Burgfrieden aushandelten.

Zu spät kommen, auf die Falschen setzen, aus durch und durch unehrenhaften und fadenscheinigen Gründen: Der Westen ist bereits daran, den Fehler von Kiew ein weiteres Mal zu begehen. Auch in Peking wird die kommunistische Macht fallen, wenn nicht heute, dann morgen. Und ich bin gespannt darauf, wie unsere Regierungen den neuen Machthabern dann erklären, warum sie sich dem undemokratischen Regime, das soeben gefallen ist, über Jahrzehnte hinweg so ehrlos angedient haben.

Ich danke Ihnen.